Motettenansprache zur Kantate BWV 5

  • 05.10.2024
  • Pfarrer i.R. Christian Wolff

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Johann Sebastian Bach (1685-1750, Thomaskantor 1723-1750)
Wo soll ich fliehen hin
Kantate zum 19. Sonntag nach Trinitatis, BWV 5

Ein 50-jähriger Mann wird im Supermarkt bei einem Diebstahl vom Ladendetektiv erwischt. Wert der entwendeten Ware: 21,80 Euro. Eigentlich eine Bagatelle. Doch die Welt des Mannes - durch Erwerbslosigkeit und Bürgergeld schon brüchig genug geworden - fällt in sich zusammen.
Wo soll ich fliehen hin,
Weil ich beschweret bin
Mit viel und großen Sünden?
Während er ziellos durch die Straßen irrt, frisst sich die Frage, mit der die heutige Kantate von Johann Sebastian Bach beginnt, unausgesprochen in die Seele des Mannes hinein. Wie mit der Schmach fertig werden? Bis jetzt kamen die Probleme von außen, nun aber sind sie von ihm selbst gemacht. Alle Fluchtwege sieht er versperrt. Werden seine Frau, die Familie, die Freund:innen noch zu ihm halten? Panik lässt diese Fragen zu einem gordischen Knoten zusammenwachsen.

Für den Mann - kein Christenmensch - wird das, was im Bass-Rezitativ der Kantate gesungen wird, zu einer bitteren Wirklichkeit:
Der Sünden Wust hat mich nicht nur befleckt,
Er hat vielmehr den ganzen Geist bedeckt.
Es ist nicht die Tat als solche, die den Mann aus der Bahn wirft. Es sind die Scham, die unabsehbaren Folgen und die Ausweglosigkeit, die ihn bis an den Rand des Suizides treiben. Und dann ist da der sehnliche Wunsch, das offensichtliche Unrecht aus der Welt zu schaffen - so wie es im zentralen Alt-Rezitativ heißt:
Es sei verscharrt in seinem Grabe,
Was ich gesündigt habe
Doch findet der Mann ein Grab, in dem sein Fehltritt vermodern kann? Findet er das Meer, in welchem er die dunkle Seite seines Lebens zu versenken vermag?

Die verzweifelte Suche des Mannes bringt ihn bis an die Kirchentür. Deren Schwelle hatte er bis jetzt noch nie übertreten. Sicher ist es nicht die Jesus-Frömmigkeit, die im Sopran-Rezitativ der Kantate zum Ausdruck kommt, die den Mann anzieht:

Dass jeder Tropfen so auch noch so klein,
Die ganze Welt kann rein
Von Sünden machen,
So lass dein Blut
Ja nicht an mir verderben,
Es komme mir zugut,
Dass ich den Himmel kann ererben.


Diese Art von Blut-Theologie ist nicht nur dem Mann fremd. Auch wir haben damit Probleme, im am Kreuz vergossenen Blut Jesu eine Lebensnahrung zu erkennen. Aber das Bewusstsein von Unrecht (unabhängig von der Schwere der Tat) und die Einsicht, sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu können, führen den Mann an die Stelle, wo jeder Mensch bedingungslos und ohne Gesichtsverlust Schuld bekennen und Vergebung erfahren kann, ohne sein Selbst und seine Würde zu verlieren: unter das Kreuz, dem Zeichen des Lebens mitten in einer unbarmherzigen, unnachsichtigen, blutrünstigen Welt. Damit ist der Mann dichter an der befreienden Botschaft Jesu als all die Menschen, die sich um ein Bagatelledelikt, um das Töten aus Notwehr, das Morden im Krieg oder den Vollzug einer Todesstrafe schon gar keine Gedanken mehr machen - dies einfach wegdrücken, verdrängen oder als unvermeidlich zu rechtfertigen versuchen. Gleichzeitig aber agieren sie gnadenlos und unerbittlich gegenüber all denen, die sich in ihren Augen schuldhaft verhalten: seien es tatsächliche Verbrecher oder Menschen, die einfach nur stören, weil sie anders sind. Was sie dabei verkennen, ist die Gute Nachricht: Jesus rechtfertigt den Sünder, aber nicht das Fehlverhalten, die Schuld. Jesus eröffnet auch dem größten Schurken einen neuen Weg – wie dem Mörder, der mit ihm gekreuzigt wurde.

Wenn wir Christen von Sünde sprechen, dann geht es eben nicht darum, einen Menschen niederzumachen, zu demütigen. Leider haben die Kirchen die Rede von der Sünde über Jahrhunderte als Machtinstrument missbraucht. Jesus hat aber aus Menschen nicht zuerst einmal Sünder gemacht. Er hat die Menschen aus der Sünde herausgerufen, sie - wie den Gelähmten in der Heilungsgeschichte - davon befreit: 
Ist mein Verbrechen noch so groß,
Er macht mich frei und los
heißt es im Alt-Rezitativ. In diesem korrespondiert die Alt-Stimme mit der von der Oboe gespielten Choralmelodie „Wo soll ich fliehen hin?“ und beantwortet damit die Frage so:
Mein Heiland tröstet mich
Ja, wer in dieser Weise eine getröstete Gewissheit findet, der kann ohne Gesichtsverlust die Konsequenzen seiner Fehler tragen und Lebenswenden vollziehen. Warum? Weil „Angst und Pein nicht mehr gefährlich sein“ müssen „und alsobald verschwinden“.

So gewinnen wir die Möglichkeit, das Böse, das Verwerfliche in uns mit Gutem zu überwinden:
Verstumme, Höllenheer,
Du machst mich nicht verzagt!
...
Es ist in Gott gewagt.
Die Bass-Arie, musikalisch kraftvoll gestaltet, zeugt davon, was Vergebung vermag: sich dem eigenen Versagen stellen, das Leben neu wagen und dabei dem Bösen widerstehen. So bleibt wichtig, dass wir im Kreuz Jesu den Fluchtpunkt entdecken, an dem all meine Sünde, Angst, Panik, Verzweiflung aufgehoben sind und verwandelt werden in ein neues Vertrauen. Amen.

Gebet

Herr Jesus Christus
durch deine Vergebung
können wir unser Leben neu wagen.
Du denkst das Böse,
zu dem wir Menschen fähig sind,
in Gutes um.
Dadurch befreist du uns vom Zwang,
unsere Schuld zu verdrängen.
Wir danken dir und bitten dich:
Lass uns zurückfinden
zum Wert und Maß des Lebens,
welche du uns verheißen hast.

Vater unser …

Christian Wolff, Pfarrer i.R.
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