Motettenansprache zu BWV 48 "Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?"

  • 21.10.2017
  • Pfarrer Hundertmark

Motettenansprache zu BWV 48 „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?“

21.10.2017, St. Thomas zu Leipzig um 15 Uhr

Liebe Motettengemeinde,

„Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt.“

Mit der Beschreibung dessen, dass wir Menschen oftmals Gutes wollen, jedoch Böses erschaffen, weil wir schwach werden, führt Paulus uns im 7. Kapitel des Römerbriefes gedanklich zu einem Punkt, an dem es existentiell wird. Im Dilemma verhaftet, fragt sich der Mensch, wo kann ich rettende Erlösung finden?

Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun – so funktioniert es eben nicht, liebe Gemeinde. Vielmehr haben alle Selbsterlösungsversuche gesellschaftlich in die Katastrophe geführt und noch mehr Leid über uns Menschen gebracht. Wir sind angewiesen auf die Barmherzigkeit eines Gottes, der nicht zuallererst nach unserem Tun schaut, sondern nach unserem Sein. Und da sieht er eben jenen Menschen, der in sich verkrümmt ist und oftmals nur bis zum Tellerrand seines Egoismus schauen kann. „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen vom Leib des Todes“, fragt der Apostel am Ende seiner Argumentation im Römerbrief, um gleich selbst die Antwort zu geben – Jesus Christus.

Johann Sebastian Bach hat die Paulinische Frage im ersten Satz seiner gleichnamigen Kantate musikalisch so umgesetzt, dass die Antwort über die Choralmelodie, die auf verschiedene Lieder passt, gegeben wird. Deren inhaltlicher Akzent ist stets gleich: Jesus Christus.

Ganz fein liegt der cantus firmus über dem klagenden Gesang, welcher melodisch immer tiefer führt, gleich einem im Elend versinkenden Menschen. Wer im Morast anfängt zu strampeln, den zieht es immer tiefer hinab. Hilfe kann da nur von außerhalb meiner selbst kommen. Somit steht die Klammer über der Kantate.

An anderer Stelle wird, zugegeben etwas versteckt, eine zweite Antwort auf die Eingangsfrage der Kantate gegeben. Diesmal durch Paulus, dessen Worte aus dem 2. Korintherbrief in der Tenorarie im 6. Satz anklingen. „Lass Dir an meiner Gnade genügen. Denn meine Kraft vollendet sich in den Schwachen (2. Kor 12,9). Diese Vollendung macht letztlich die Stärke Gottes aus. Und aus solcher Stärke heraus, die den Schwachen eben nicht aus den Augen verliert, geschieht Heilung.

Der Sünden Gift wütet in Brust und Atem und macht den Menschen krank. Kennen wir das nicht? Wo Neid oder Hass, Missgunst, Ablehnung oder Misstrauen sich ganz langsam, kaum bemerkbar, in die eigenen Gedanken einschleichen, verändert sich unser Handeln und unser Reden. Aus ehemaligen Freunden werden Konkurrenten, aus unbeschwerter Neugier auf etwas Neues, wird Angst um das Bewährte. Aus Aufgeschlossenheit und Menschenfreundlichkeit wird in den Beharrungs- und Ablehnungsmodus gewechselt. Wie ein Gift wirkt die Sünde der Lieblosigkeit. Sie wird zum Dämon, um sich unser zu bemächtigen. Davon kann die Seele krank werden und daraus folgend auch der Körper. Vielleicht lässt sich so die Verknüpfung von kranker Seele und krankem Körper verstehen von der hier wie auch im Evangelium bei Matthäus die Rede ist. Noch deutlicher wird das, wenn wir uns vor Augen halten, dass ohne befreiendes Gegenüber der Mensch wieder nur einzig und allein an sich selbst gebunden ist und alles mit sich ausmachen muss.Davon kann man nur krank werden.

Gott macht ein befreiendes Angebot. Er schickt Jesus Christus. Er schickt ihn zu mir, in mein Elend, in meine Verzweiflung, in meine Seelennot, damit ich wieder Frieden finden kann. Sehe ich nun zu diesem Gegenüber auf, und schaffe ich es, ihm zu vertrauen, wirklich zu vertrauen, so lässt er mir Heilung vom Gift der Sünden zu Teil werden. Dafür gibt es einen Grund: Die Liebe Gottes, die nicht fragt, sondern antwortet. Sie antwortet mit einem uneingeschränkten „JA“.

Ja, du bist und bleibst mein Menschenkind.

Ja, du wirst nicht aus meiner Gnade fallen.

Der Gelähmte wird mit dem festen Vertrauen seiner Freunde zu Jesus gebracht, dass dort bei ihm Hilfe zu finden ist. Jesus Christus schaut den Gelähmten an und spricht ihn frei von allem, was ihn belastet und dadurch lähmt. So wandelt er die Unfähigkeit, etwas zu tun in eine neue Lebensperspektive. Auf eigenen Füßen steht er, weil er stark gemacht wurde durch den Zuspruch Christi. Er muss nun nicht mehr Heilung in sich selbst suchen.

Die Kantate antwortet im letzten Satz, im Choral nicht nur melodisch auf die Eingangsfrage, sondern auch inhaltlich. „Herr, Jesu Christ, einiger Trost, zu dir will ich mich wenden; mein Herzeleid ist dir wohl bewusst, Du kannst und wirst es enden.“

Liebe Motettengemeinde, genau das macht die Einzigartigkeit unseres Gottes aus – er hat Kenntnis von meinem Herzeleid und wendet es aus Barmherzigkeit mir gegenüber. Darauf kann es nur eine angemessene Antwort voller Vertrauen geben:

„Mach´s, lieber Gott, wie dir´s gefällt; Dein bleib und will ich bleiben.“ Amen.