Motettenansprache

  • 14.09.2024
  • Pfarrer Tobias Habicht

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Lesung Lukas 7 - Der Sohn der Witwe zu Nain

Die Lesung für den 16. Sonntag nach Trinitatis steht im Evangelium nach Lukas im 7. Kapitel und bildet den biblischen Hintergrund der Kantate, die wir hören werden.

Und es begab sich danach, dass er in eine Stadt mit Namen Nain ging; und seine Jünger gingen mit ihm und eine große Menge. Als er aber nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der der einzige Sohn seiner Mutter war, und sie war eine Witwe; und eine große Menge aus der Stadt ging mit ihr. Und da sie der Herr sah, jammerte sie ihn, und er sprach zu ihr: Weine nicht! Und trat hinzu und berührte den Sarg, und die Träger blieben stehen. Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, steh auf! Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden, und Jesus gab ihn seiner Mutter. Und Furcht ergriff sie alle, und sie priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und: Gott hat sein Volk besucht. Und diese Kunde von ihm erscholl im ganzen jüdischen Land und in allen umliegenden Ländern.               AMEN

Ansprache zu Lukas 7 und BWV 8 „Liebster Gott, wenn werd ich sterben“

Liebe Motettengemeinde,

„Protest gegen den Tod“! - in der eben gehörten Geschichte der Auferweckung des Jünglings von Nain bei Lukas und in der Kantate, die wir gleich hören werden: „Liebster Gott, wenn wird ich sterben“ von Johann Sebastian Bach.

Das Entscheidende passiert in der Begegnung Jesu mit der Mutter, die um ihren Sohn trauert. Jesus lässt sich von ihrem Leid erschüttern und findet sich mit dem Tod nicht ab. Jesus protestiert gegen den Tod des Jünglings. In Gottes Namen holt er den Toten zurück ins Leben – und das Wunder geschieht, er steht auf. Und Gott macht mit. Er lässt Jesus nicht im Stich, sondern gibt ihm die Kraft, den Toten wieder lebendig zu machen.

Wir sind nicht Jesus Christus. Wir haben diese Kraft nicht, wir können keinen Toten ins Leben zurückrufen. Aber auch wir Christinnen und Christen sind Protestleute gegen den Tod. Deutlich wird mir das immer bei der Verabschiedung eines geliebten Menschen. Wenn wir uns so wie Jesus anrühren lassen, wenn wir mit Menschen zusammenkommen, die um einen Menschen trauern. Wenn wir uns erschüttern lassen und die Trauernden begleiten in ihrem Schmerz. Das hilft oft. Und dieses Mitgehen und Aushalten ist ein Protest gegen die Endgültigkeit des Todes. Ebenso wenn wir uns an die Verstorbenen erinnern, dann ist das ein Wachhalten der Erinnerung. Wir setzen unser Gedächtnis gegen die Macht des Todes, die alles auslöschen will.

Im Verabschieden eines Lebens mit den Angehörigen leuchtet die Kostbarkeit, Einzigartigkeit und Endlichkeit eines jeden Lebens auf. Ich werde dann dankbar für die alten Bäume, die Blumen und Hecken und höre den Trost im Gesang der Vögel und in den murmelnden Gesprächen der Menschen, die Gräber besuchen. Wenn ich nach einer Trauerfeier aufs Rad steige, spüre ich die Sonne auf meinem Gesicht oder den Regen besonders intensiv. Ich freue mich auf die Menschen, denen ich noch begegnen werde, auf das Kichern der Jugendlichen, die Lieder im Chor, die Wie-war-Dein-Tag-Fragen beim Abendbrot mit der Familie. In allem finde ich die Schönheit des Alltags. Auf dem Friedhof kommen die Einsicht in die Endlichkeit des Lebens und die Freude, leben zu dürfen, zueinander.

Auch die Kantate handelt von diesen Themen: von Tod und Leben, von Verlust und Trost, und von der überwältigenden Gnade Gottes, die im Mitgefühl und in der Liebe Jesu Christi Gestalt gewinnt. Der Titel der Kantate spricht die Frage aus, die uns alle irgendwann im Leben beschäftigt: Wann werde ich sterben? Für viele eine beunruhigende Frage, die Unsicherheit und Angst auslöst. Der Tod, nach wie vor ein gesellschaftliches Tabuthema: „Darüber spricht man doch nicht!“. Verständlich, angesichts der Ungewissheit von Zeitpunkt und Art…

Doch gerade die Tatsache, dass das Leben endlich ist, kann uns in besonderer Weise auf die wesentlichen Fragen des Lebens hinweisen. Die Menschen zur Zeit Bachs machten viel unmittelbarere Erfahrungen des Todes als wir heute – auch Bach selbst blieb davon nicht verschont. In Bachs Leben war der Tod allgegenwärtig – die Eltern, die erste Frau, die eigenen Kindern. Doch auch wir können uns heute nicht vor dieser Frage verschließen: Wie gehen wir mit unserer eigenen Endlichkeit um?

Musik und Text der Kantate verbinden die Frage nach dem Ende des Lebens mit der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, sie erinnern uns an die Vergänglichkeit unseres irdischen Daseins und lenken den Blick auf das Ewige. Musikalisch arbeitet Bach in dieser Kantate besonders eindrucksvoll mit dem Motiv der Vergänglichkeit und nutzt dabei einen differenziert ausgearbeiteten Orchesterpart für Flauto piccolo - ursprünglich wohl und auch heute mit einer Sopran-Blockflöte besetzt - zwei Oboe d’amore, beide Instrumente stehen bei Bach charakteristisch auch für die Beschäftigung mit dem Tod, mit dabei sind Streicher und Continuo.

[I. Satz] Schon im Eingangschor schwingt diese Ambivalenz mit: Während die beiden Oboen die furchtsame Frage nach der Todesstunde unterstreichen, imitiert die Flöte die Unruhe einer tickenden Uhr: sie tickt unaufhörlich, bis sie am Ende zum Stillstand kommt und so an das Dahinschwinden eines Lebens erinnert. Getragen auf einem Fundament von im Achtelrhythmus zupfenden Violinen und Bratschen und das Continuo im Rhythmus von halben Takten, die auf ein Glockengeläut hinweisen mögen, so interpretiert mein verehrter Lehrer aus Leipziger Zeiten, Prof. Martin Petzoldt.

Bach komponiert dazu die Choralzeilen des Chors, die auf Grundlage des gleichnamigen Liedes von Caspar Neumann von 1690 entstanden sind, nicht als verzweifelten Ausruf oder ängstliche Frage, sondern in einem ruhigen, fast friedlichen und vertrauensvollen Ton. So wie der Choral in die komponierte „Zeit“ des Instrumentalsatzes eingebaut ist, so ist der Mensch in die Zeit hineingeworfen mit seiner Frage: „wenn werd ich sterben?“

Einerseits die Dringlichkeit und Unsicherheit des Todes, andererseits eine sanfte, tröstliche Melodie, die die Worte trägt. Es ist, als ob Bach die Botschaft vermitteln will: Ja, der Tod ist gewiss, aber er muss nicht gefürchtet werden, denn er ist Teil von Gottes Plan.

[II. Satz] Dass der Tod seinen Schrecken noch nicht verloren hat, deutet die folgende Tenor-Arie mit eindrücklichen Intervallsprüngen in der Singstimme und der obligaten Oboe d’Amore an, ebenso dem weiterhin unerbittlichen Stundenschlag im Continuo-Bass. In diesem Satz zwei wichtige Aussagen: täglich geschieht Sterben – und es betrifft jeden Menschen. Die Antwort des Tenors ist „philosophisch“, wenn nicht sogar „ethisch“ zu nennen: Sterben heißt, sich in das Unvermeidliche schicken.

[III. Satz] Das Rezitativ des Alts „Zwar fühlt mein schwaches Herz Furcht, Sorge, Schmerz“ nimmt direkt Bezug auf unsere Lesung. Der Abschied von Freunden, von der Familie, von allem Liebgewonnenen, von aller Sicherheit betrübt den Sterbenden - der Mensch wird in seiner Gewissheit angefochten und erschüttert. Kontrastiert wird die Singstimme durch das begleitende Accompagnato der Streicher, denn dieses verstärkt die Furcht nicht, sondern beruhigt sie eher.

[IV. Satz] Und schafft so den Übergang zu der kraftvoll gestalteten Arie des Basses als Stimme des Glaubens: „Doch weichet, ihr tollen, vergeblichen Sorgen“. Bach verwendet hierbei ein Wechselspiel von sanften, introvertierten Passagen und kraftvollen Momenten, die das Aufbegehren gegen die Ängste vor dem Tod verdeutlichen. Es ist eine tiefe Freude, die hier zum Ausdruck kommt, im beschwingten Gigue-Rhythmus, dem Zwölf-Achtel-Takt notiert, in strahlendem A-Dur - eine Freude, die aus dem Vertrauen auf die Erlösung durch Christus wächst. Der Gläubige wird ermutigt, sein Vertrauen auf Gott zu setzen. Das Sterben wird als der Weg von der Welt zu Jesus gesehen - der Tod ist nicht das Ende, sondern nur ein Übergang.

[Satz V + VI] Das Rezitativ des Soprans greift diese zuversichtliche Haltung auf: Gottes Treue hat kein Ende und wird jeden Morgen neu. Der Schlusschoral, die 5. Strophe des Liedes von Caspar Neumann, ermuntert den Menschen schlussendlich: wir sollen lernen, richtig zu sterben – und auch richtig zu leben – ein ganzes Leben lang. So bittet der Chor: „Herrscher über Tod und Leben, mach einmal mein Ende gut, lehre mich den Geist aufgeben mit recht wohlgefasstem Mut.“

Der Tod wird kommen – die Frage ist: wann? Und wie gehen wir damit um? Hier bietet die erste Frage und Antwort des Katechismus, der 1563 in meiner Heimatstadt Heidelberg von Zacharias Ursinus verfasst wurde, eine kompakte und zugleich einprägsame Antwort an: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Dass ich mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben, nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.“

Das sagen uns heute Evangelium und Kantate zu: Unser Trost liegt darin, dass wir Jesus gehören. Er kennt und sieht unsere Trauer, er kennt unsere Schmerzen, und er ist uns nahe in Zeiten der Not. Er kennt die tiefsten Abgründe unseres Herzens, und er will uns in diesen Momenten begegnen. Vielleicht schenkt er uns nicht immer das, was wir erwarten oder erhoffen, aber er schenkt uns das, was wir wirklich brauchen: seine Gegenwart, seine Liebe und die Gewissheit, dass er uns durch alles hindurch trägt. Und noch mehr als das: Er hat den Tod überwunden. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Unser Leben gehört ihm, und das bedeutet, dass selbst der Tod uns nicht von ihm trennen kann. Deutlich wird mir das immer bei der Verabschiedung eines geliebten Menschen: Auf dem Friedhof kommen die Einsicht in die Endlichkeit des Lebens und die Freude, leben zu dürfen, zueinander. AMEN

 

Gebet

Gott unseres Lebens, in Jesus Christus bist du dem Tod begegnet als einer von uns.

In Jesus Christus hast du unsere Ohnmacht und unseren Schmerz erfahren, geweint und geschrien. In ihm zeigst du uns dein menschliches Gesicht, an ihm zeigst du auch deine Grenzen sprengende Kraft. Aus allem, was einengen, schädigen und zerstören will, führst du heraus, hin zum Leben. So stärke in uns das Vertrauen, dass bei dir das Leben ist, auch für uns. Dir sei Ehre und Lob und Preis in alle Ewigkeit.

AMEN

Dein Sohn hat uns Worte gelehrt, die wir voll Vertrauen und Zuversicht beten dürfen – so sprechen wir gemeinsam:

Vater Unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. AMEN

Segen

Es segne und behüte euch der allmächtige und barmherzige Gott, + der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.   

Gem.: AMEN