Motettenansprache zu BWV 33
- 24.08.2024
- Pfarrerin Christiane Neufang
PDF zur Motettenansprache HIER
Liebe Motettengemeinde,
kann ich Ihnen helfen? So zu fragen fällt mir leicht. Dann habe ich gerade Zeit, Kapazität und möchte helfen.
Den meisten von Ihnen wird es ähnlich gehen:
Dass jemand anderes gerade bedürftig ist und Hilfe braucht, geht zu Herzen. Um Hilfe zu bitten, sich Hilfe zu holen, erfordert Mut. Fällt oft viel schwerer. Da muss dann die Not schon richtig groß sein, oder?
Manche erinnern sich vielleicht an die Nachrichten vor einiger Zeit: Statt Erste Hilfe zu leisten, ließen drei Kunden in einer Bankfiliale in Essen einfach einen bewusstlosen Rentner auf dem Boden liegen. Sie hatten den 83-Jährigen ignoriert
und sind wegen unterlassener Hilfeleistung
zu Geldstrafen verurteilt worden.
In der Begründung des Gerichts hieß es:
Der Rentner sei ihnen einfach gleichgültig gewesen.
Sie hätten billigend in Kauf genommen,
dass da jemand liege, der Hilfe benötige.
Die Beschuldigten wären zur Hilfe verpflichtet gewesen, hätten sich aber dem hilflosen Mann gegenüber "in nicht hinnehmbarer Weise gleichgültig verhalten", so das Gericht. Ein Augenblicksversagen,
weil alle "andere Dinge im Kopf" gehabt hätten.
Ein Vorfall, der aufrüttelt.
Und ich gestehe: manchmal habe ich auch andere Dinge im Kopf. Da ist es mir zu viel, die Not der anderen zu sehen. Da mag ich auch nicht mehr hinsehen. Kann es nicht ertragen.
Ich habe schließlich meine eigenen Sorgen.
Dann ist mir einfach alles zu viel.
Wie furchtsam wankten meine Schritte,
Doch Jesus hört auf meine Bitte
Und zeigt mich seinem Vater an.
heißt es in der Alt-Arie der Kantate „Allein’ zu Dir,
Herr Jesu Christ“, die wir gleich hören werden.
Ich möchte den Musikgenuss nicht vorwegnehmen,
aber ich finde genial, wie hier bereits Bibeltext
und Bach’sche Komposition ineinandergreifen.
Es ist ein langes und intensives Stück, das gemächlich dahin fließt. Begleitet von gedämpften Violinen und Pizzicato der Streicher, beinahe wie ein unablässiges Anklopfen. Es setzt musikalisch fort, was Bach in einer anderen Arie „wie Zittern und wanken der Sünder Gedanken“ bereits komponiert hat.
Bachs musikalisches Mittel in dieser Kantate ist
ähnlich!
Er möchte das Bild von furchtsam wankenden Schritten zeichnen. Die gedämpften Violinen spielen kleine Melodiefloskeln in Sechzehnteln,
ohne dass sie so richtig zu Ende gespielt werden.
Beim Hören wirkt es beinahe wie ein musikalischer Lückentext, weil immer 2-3 Noten fehlen
und in unterschiedliche Richtung ausschlagen.
Ich kann sie geradezu körperlich nachempfinden
und gerate dabei beinahe selbst unsicher ins Wanken.
So als würde ich den Boden unter meinen Füssen verlieren.
Und es erinnert mich an Situationen im Leben,
in denen Menschen unsicher sind und auch keinen festen Halt mehr spüren. Studierende in der Gemeinde, in der ich mit ihnen arbeite, haben mir in persönlichen Gesprächen oft davon erzählt.
Wenn ihnen plötzlich alles zu viel wird mit Studium, Alltag und Privatleben. Wenn sie den Ansprüchen im Studium nicht gerecht werden und die Angst vor dem Scheitern sie bedrängt.
Wenn es mir so geht, dann habe ich keinen Blick mehr für die Not der anderen. Dann schaue ich auf mich und meine eigenen Probleme.
Im Evangelium für heute steht die Geschichte vom
Barmherzigen Samariter im Mittelpunkt.
Ein Gleichnis, das Jesus erzählt, als er von einem Gesetzeslehrer gefragt wird: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?
Und Jesus antwortet wie so oft mit einer Erzählung.
Wir haben sie eben in der Lesung gehört.
Das Gleichnis aus dem Lukasevangelium zählt zu einem der wichtigsten in der Bibel. Es spielt sich zwischen den Städten Jerusalem und Jericho ab,
die damals durch eine ca. 27 km lange, einsame Bergstraße verbunden waren. Von Jerusalem, das 790 m über dem Meeresspiegel liegt, ging es hinab nach Jericho in den tiefen Jordangraben.
Hinter den Gesteinsbrocken konnten sich Räuber gut verstecken, Reisende überfallen und sich dann schnell in die Wüste zurückziehen.
Auf diesem Weg ereignet sich der Überfall.
Ein Mensch liegt schwer verletzt am Boden,
ist halbtot geschlagen.
Da kommt ein Priester und geht achtlos an dem Verletzten vorbei, lässt ihn einfach liegen.
Danach ein Levit, ein Diener des Priesters holt ebenfalls keine Hilfe. Ignoriert, dass er dort liegt.
Auch ein Augenblicksversagen?
Weil beide gerade andere Dinge im Kopf haben? Oder weil sie sich nicht verunreinigen wollen
und die kultischen Regeln ihnen in dem Moment wichtiger sind, wie es eine Deutung vermutet.
„Mich drückten Sündenlasten nieder,
doch hilft mir Jesu Trostwort wieder,
dass er für mich genug getan“.
Singt die Altstimme in ihrer Arie.
Wir würden heute sagen: Fehlerhaftes Verhalten,
etwas, das auf mir lastet wie das schlechte Gewissen. Was bewegt den Priester und Leviten, nicht einzuschreiten? Und auch ich frage mich selbst:
Was hindert mich manchmal, genau hinzuschauen?
Was hindert mich, mich hineinziehen zu lassen in die Not anderer? Auf welche Notstände kann und will ich schauen wie der Samariter, und vor welchen muss ich vielleicht meine Augen verschließen wie der Priester und der Levit, damit ich mich selbst nicht überfordere?
Bach und sein Librettist, also der Lieddichter,
haben für die Kantate als Grundlage ein Lied ausgewählt, das unter der Kategorie „Bußchoräle“
zu finden ist. Im zweiten Rezitativ nimmt der Text Bezug auf das Individuum – den Menschen als Sünder:
„Mein Gott, verwirf mich nicht, wiewohl ich dein Gebot
noch täglich übertrete, von deinem Angesicht!
Das kleinste ist mir schon zu halten viel zu schwer;
Doch, wenn ich um nichts mehr als Jesu Beistand bete,
So wird mich kein Gewissensstreit der Zuversicht berauben;
Wie passt das zusammen? NÄCHSTENLIEBE
und BUßE? Für die Kantate gibt es das eine nicht ohne das Andere. Das Bekenntnis und die Selbstreflektion über versäumte Gelegenheiten
zur Nächstenliebe. Aber dann auch die Bitte um Hilfe
und göttlichen Beistand.
Und Jesus? Er erzählt ja gerne Geschichten
und Gleichnisse, um uns etwas zu verdeutlichen.
Damit auch wir ins Nachdenken kommen.
Über uns selbst und unser Leben.
Eine Form der Buße.
Der Samariter macht es uns vor:
genau im richtigen Moment hat er den Blick für das,
was notwendig ist, um zu helfen.
Er hat nichts mit dem Überfallenen gemeinsam.
Sondern stammt aus einer Religionsgemeinschaft,
die den Juden fremd ist. Aber das kümmert ihn nicht. Er übt praktische Nächstenliebe, die es wagt,
alles, was ihr entgegensteht, zu ignorieren.
Nachdem er Erste - Hilfe geleistet hat, bringt er den Verletzten in eine Herberge, bezahlt den Wirt für die
weitere Pflege und Behandlung.
Und zieht dann weiter. Ein großartiges Zeichen von Nächstenliebe und sogar Feindesliebe.
Denn als ein Fremder wird er dem Opfer zum Nächsten.
Das zieht den Kreis um unsere Nächsten ganz weit.
Und zwar um die Fremden als diejenigen, die uns nicht nur in Gestalt von Überforderung und Last gegenübertreten, sondern wie im Gleichnis helfend und heilsam. Als tätiges Subjekt mit ganz eigenen Gaben und Talenten.
Ja, der fremde Samariter übernimmt Verantwortung.
Er sieht die Not und handelt sofort.
Tut das, was nötig ist und geht dann wieder seiner Wege.
Ich merke, Hilfe heißt hier auch: abgeben können, sich nicht auf Dauer zum Mittelpunkt des Helfens zu machen. Sich auch nicht zu überfordern die eigenen Kräfte und Grenzen zu vergessen. Heißt für mich auch: das Opfer auf keinen Fall abhängig machen von meiner Hilfe. Sondern Freiheit und Mut zum nächsten Schritt zu lassen.
Christsein im Sinne des Gleichnisses bedeutet,
sich in einem Drei -Schritt zu üben – im Miteinander von Gottesliebe, Nächstenliebe und der Liebe zu mir selbst. Fast wie bei einem Walzer. Drei Schritte, im Rhythmus, aufeinander abgestimmt.
Denn auf die Frage des Schriftgelehrten, was er denn tun müsse, um am ewigen Leben teilzuhaben, gibt er – auf Jesu Rückfrage - selbst die Antwort:
»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt und deinen Nächsten wie dich selbst«
Die drei Teile stehen gleichberechtigt nebeneinander und sind aufeinander angewiesen.
Sie gehören zusammen, ja, brauchen sich gegenseitig, damit sie sich wechselseitig begrenzen, einschränken und deuten.
Ist eine dieser drei Lieben zu stark oder zu schwach, kommt der ganze Mensch aus dem Gleichgewicht, sagt die Bibel. Wir bleiben dann nicht im Rhythmus, sondern geraten ins Stolpern.
So gibt es eine Gottesliebe, die sich ganz und gar verliert in der frommen Zweisamkeit mit Gott.
Sie vergisst, dass Gottesliebe gespürt werden will unter uns Menschen und bei den Nächsten ankommen soll. Es gibt eine – scheinbare – Gottesliebe frommer Fundamentalisten, die ihre brennende Liebe zu Gott
als Kampf gegen die heidnische, böse Welt führt,
bis hin zu Gewalt und Terror.
Ein solcher Fundamentalismus hat mit Gottesliebe nichts zu tun. Denn er vergisst, wen Gott liebt.
Es gibt dann eine Liebe, die vor allem die Nächsten in den Blick nimmt und sich ganz und gar aufopfert für sie. Ich erlebe: Wer so liebt, vergisst dabei die Liebe zu sich selbst. Gottes Liebe soll bei den Nächsten und zugleich bei mir ganz persönlich ankommen und mir guttun.
Darum gehören die drei unabdingbar zusammen: wenn eine der drei Seiten Übergewicht bekommt
oder vergessen wird, nimmt die Liebe Schaden –
und der Mensch, der lieben will, auch.
Liebe in der Bibel meint fast immer Solidarität, Mitgefühl, Empathie und Anteilnahme. Liebe ist – gestatten Sie mir heute diesen Vergleich - wie Musik im ausgeglichenen Dreiklang zwischen Gottes- Nächsten- und Selbstliebe.
Sowie am Schluss der Kantate: Wenn Tenor und Bass ein optimistisch klingendes Duett singen,
ja eine HYMNE auf die Nächstenliebe.
„Gott, der Du die (Nächsten)Liebe heißt – ach, entzünde meinen Geist, lass zu Dir vor allen Dingen, meine Liebe kräftig dringen.“ Gib’ dass ich aus reinem Triebe als mich selbst den Nächsten liebe.
Bach komponiert hier ein Duett mit Tenor und Bass. Sie besingen, beschwören fast die Nächstenliebe.
Genau genommen ist es beinahe ein Quartett. Begleitinstrumente sind zwei „schnatternde“ Oboen, die gleichberechtigt mit den beiden Sängern musizieren.
So wirkt es am Schluss beinahe wie in einer Mozart Oper, wo im letzten Akt das Quartett kommt, bei dem alle noch einmal kräftig durcheinander singen – aber alle dasselbe wollen, nämlich die Nächstenliebe beschwören.
Wer an Jesus Christus glaubt, den kann die Not anderer Menschen nicht unberührt lassen.
So beschließt der Schlusschoral „Ehr sei Gott im höchsten Thron“ das Ringen um das richtige Tun, zwischen den unsicheren Schritten und der notwendigen Hilfe für andere.
Damit wir die Augen offenhalten und aus dem Augenblicksversagen ein Hingucker wird.
Damit wir uns nicht hindern lassen,
von der Not anderer berührt zu werden.
Damit wir das Gespür für den rechten Augenblick bewahren. Kann ich Ihnen helfen? Aber gerne doch!
AMEN
LUKAS 10
26 Er aber sprach zu ihm:
Was steht im Gesetz geschrieben?
Was liest du? 27 Er antwortete und sprach:
»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt,
und deinen Nächsten wie dich selbst«
28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet;
tu das, so wirst du leben.
29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster?
30 Da antwortete Jesus und sprach:
Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber;
die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen.
31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber.
32 Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber.
33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war,
kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn;
34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn;
und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen,
wenn ich wiederkomme.
36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?
37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat.
Da sprach Jesus zu ihm:
So geh hin und tu desgleichen!