Motettenansprache zu BWV 131 „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“

  • 17.02.2024
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Motettenansprache am 17. Februar 2024, St. Thomas zu Leipzig um 15 Uhr, BWV 131 „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“

 

Liebe Motettengemeinde,

Alexej Nawalny ist gestern gestorben. Sein Tod wirft Fragen auf. Gab der russische Diktator den Auftrag, ihn umzubringen? Wurden die Haftumstände so arrangiert, dass der Tod unausweichlich gewesen ist?

Antworten werden wir auf diese Fragen wohl erst viele Jahre später bekommen, wenn überhaupt.

Alexej Nawalny hatte es sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht, gegen Korruption, Misswirtschaft und Bereicherung einiger weniger Mächtigen in seinem Land vorzugehen. Als Journalist recherchierte er bis ins Detail. Sein Ziel war es, dem Volk die Augen zu öffnen. Seine Hoffnung, durch die eigene Arbeit irgendwann vielleicht auch Veränderungen herbeizuführen, gab er nicht auf. Deshalb ging er nach der erfolgreichen ärztlichen Behandlung in der Berliner Charité wieder zurück nach Russland, wohlwissend, dass ihm Lager, Haft und Bann drohten. Jeder hätte verstanden, wenn er nach dem Giftanschlag auf sein Leben hier geblieben wäre und seinen Kampf aus sicherer Umgebung geführt hätte. Aber das kam für ihn nicht infrage. Für ihn war das Beschreiten des unbequemen Weges auch eine Frage der Glaubwürdigkeit. In einem von russischer Propaganda organisierten Schauprozess wurde er zu jahrzehntelanger Haft verurteilt. Seine Reden vor Gericht hat Alexej Nawalny in einem Buch veröffentlicht. Daraus zitiere ich die folgende Textpassage.

Kürzlich hat mir jemand geschrieben: "Du, Nawalny, warum sagen dir eigentlich ständig alle: Halt durch, gib nicht auf, du musst es überstehen, beiß die Zähne zusammen ... Aber was hast du denn eigentlich zu überstehen? Du hast doch in einem Interview gesagt, du glaubst an Gott. Und es steht ja geschrieben: Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. Dann geht es dir doch bestens!" Und ich dachte mir: Da versteht mich ja jemand richtig gut! Nicht, dass es mir gerade bestens ginge, aber dieses Gebot habe ich immer als Handlungsanweisung verstanden. Es macht mir zwar keinen Spaß, hier zu sein, aber ich bedauere auch keinesfalls meine Rückkehr und das, was ich gerade tue. Denn ich habe alles richtig gemacht. Ich fühle sogar so etwas wie Genugtuung, weil ich in einer schwierigen Zeit getan habe, was in der Anweisung steht. Ich habe das Gebot nicht verraten.

Eine wichtige Sache noch. Für den modernen Menschen klingt dieses Gebot natürlich viel zu pathetisch: "selig", "hungert und dürstet nach Gerechtigkeit" ... Ja, es klingt ziemlich abgedreht.

 

Wissen Sie, die Burschen, die den Gefangenentransport bewachen, sind tolle Jungs, und meine Wächter im Gefängnis sind auch okay – aber sie reden nicht mit mir. Es wurde ihnen wohl verboten. Sie sagen nur gelegentlich etwas Dienstliches. Und das ist eben auch so eine Sache, damit ich mich ständig einsam fühle. Aber das wirkt bei mir nicht.

Und ich kann sagen, warum. Dieses "Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden" – das mag ja exotisch oder komisch klingen, aber in Wirklichkeit ist das aktuell die bedeutendste politische Idee in Russland. Sagen Sie doch selbst, Euer Ehren – es gibt in Russland so einen politischen Slogan, den populärsten überhaupt, wie heißt er noch mal? Helfen Sie mir aus: Wo liegt die Kraft? (Pause) Richtig, Kraft liegt in Gerechtigkeit. Das ist ein Satz, den alle zitieren. Und es ist ja genau das Gleiche – das gleiche Gebot, nur ohne diesen altmodischen Schnickschnack. Die gleiche Essenz, auf Twitter-Länge komprimiert. Und das ganze Land wiederholt es: Kraft liegt in Gerechtigkeit. Wer Wahrheit und Gerechtigkeit hinter sich hat, wird siegen.

aus: Alexej Nawalny: Schweigt nicht! Reden vor Gericht

 

 

 

Liebe Motettengemeinde,

für ein friedliches und demokratisches Zusammenleben brauchen wir stets aufs Neue Menschen wie Alexej Nawalny, die bereit sind, ihre Komfortzone aufzugeben, um sich für Gerechtigkeit im Sinne der Bergpredigt einzusetzen. Glaubwürdige Nachfolge Jesu Christi kann auch an die Grenze kommen, an der man entscheiden muss, ob das eigene Leben eingesetzt werden soll, damit der zu gehende Weg auch in aller Konsequenz beschritten werden kann. Der unbändige Durst und Hunger nach Gerechtigkeit treibt viele Menschen an. Manchem Zeitgenossen wohnt dieser Hunger und Durst inne, weil sie es nicht aushalten, wenn andere unter Ungerechtigkeit leiden. Jesu Zusage, dass die solchermaßen Hungrigen und Durstigen gesättigt werden, ist eine trostvolle Verheißung. Wahrscheinlich können wir uns das nicht so wirklich vorstellen, hier in der warmen Kirche, am sicheren Ort: wie wichtig solche Zusage ist für diejenigen, die aufgrund ihres Kampfes für Gerechtigkeit im Sinne der Bergpredigt in Haft sitzen oder um ihr Leben bangen.

Das Glaubens- und Lebenszeugnis von Alexej Nawalny reiht sich ein in eine lange Liste von Männern und Frauen. Sie haben mit ihrem Leben bezeugt, wozu Jesus Christus eingeladen hat: ihm nachzufolgen auf dem Weg zu einer Gerechtigkeit, jenseits menschlicher Verwerfungen, nachzufolgen auf dem Weg des Friedens als Grundlage für ein liebevolles Zusammenleben verschiedener Menschen, nachzufolgen auf dem Weg der Sanftmut mit ihrer großen Kraft zur Veränderung.

Liebe Motettengemeinde,

wir werden gleich die Kantate von Johann Sebastian Bach „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“ hören. Vielleicht hören wir sie heute etwas sensibler, wenn wir an all die Menschen denken, deren verzweifelte Gebete sich in diesem Moment an Gott richten im Vertrauen, dass er sie nicht allein lassen wird.

Und auch wenn der zugrundeliegende Psalm 130 ein Bußpsalm ist, also ein Gedicht zum Nachdenken über eigene Fehler und Verfehlungen, so greift doch die am Ende stehende Hoffnung unser aller Anliegen auf – wir bitten um Erlösung aus den Dingen, die unser Leben beschwerlich machen. Wir bitten um Erlösung aus Schuld und Not. Diese Bitten haben einen guten Grund. Sie gründen sich auf der uns geschenkten Gnade Gottes.

In ihr ist jetzt auch Alexej Nawalny geborgen und aufgehoben.

Amen.