Motettenansprache zu Apg. 16, 9-15.

  • 01.03.2025
  • Prof. Dr. Dr. h.c. Dietrich Korsch

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Begrüßung
Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Heute, wenn ihr seine Stimme hört, so verstockt eure Herzen nicht. Dieses Wort aus dem Hebräerbrief hat uns durch die Woche geleitet, die ihrem Ende zugeht. 
Heute zu hören, dazu sind wir hier. Worte – und Musik. Worte der Bibel und Musik der Leipziger Meister Johann Sebastian Bach und Felix Mendelssohn-Bartholdy. Wie sollten wir, wenn wir hören wollen, unsere Ohren verschließen, unsere Herzen verstocken? 
Aber sie ausrichten, Ohren und Herzen, darauf müssen wir uns einstellen. Das tun wir, indem wir selbst sprechen und uns dabei zuhören – und Gott ansprechen, damit er uns hört.
Das tun wir mit Worten aus dem 119. Psalm.

Ansprache zu Apg. 16, 9-15.
In der Apostelgeschichte, liebe Gemeinde, finden sich viele bemerkenswerte Geschichten aus der frühen Christenheit. So auch diese aus dem 16. Kapitel. Sie nimmt nicht nur eine ganz besondere Stellung ein, sie enthält auch ein tiefes Geheimnis. Aber hören Sie selbst:
„Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: Ein Mann aus Makedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Makedonien und hilf uns! Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Makedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen.
Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Makedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. 
Am Sabbattag gingen wir hinaus vor das Stadttor an den Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen.
Und eine Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, eine Gottesfürchtige, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, sodass sie darauf achthatte, was von Paulus geredet wurde. Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.“
Was da erzählt wird, liebe Gemeinde, ist ein Wendepunkt in der Geschichte des Urchristentums: Das Evangelium kommt aus dem vorderen Orient nach Europa. Es ist sozusagen die Zuwanderung der frohen Botschaft von Kleinasien nach Griechenland. Von Troas in der heutigen westlichen Türkei geht der Weg des Apostels Paulus und seiner Begleiter über Samothrake, die berühmte Insel der griechischen Gottheiten, nach Philippi in Makedonien. Dort besuchen sie am Sabbat den Betplatz, vielleicht die Synagoge und treffen dort auf Frauen, darunter die offenbar begüterte Lydia; eine Textilunternehmerin, würden wir heute sagen. Paulus redet, Lydia hört zu. Dann läßt sie sich taufen, und in ihrem Haus entsteht die erste christliche Gemeinde Europas. 
Das ist schon eine besondere Geschichte. Der Übergang in eine neue Umgebung. Vermittelt durch eine Frau, in der patriarchalischen Welt. Und eine selbständige Unternehmerin mit eigener Firma noch dazu. Die dann die Gemeinde organisiert, die ohne sie nicht zusammenkommen könnte. 
Aber das ist noch gar nicht das Geheimnis der Geschichte. Das steckt in der Mitte, von der gar nichts erzählt wird. Paulus redet, Lydia hört zu. Was hat Lydia gehört? Was hat Paulus gesagt? Warum hat sich ihr Leben geändert?
Worte hat sie gehört, die Purpurhändlerin. Sie hat hingehört, sich dem Sinn geöffnet, der ausgesprochen wurde. Sie hat zugehört, sich dem Gehalt zugewandt, der ihr entgegenkam. Und hat am Ende dazugehört, zu denen, die an Christus glauben.
Ob wir aus diesem Vorgang des Hörens entnehmen können, was Paulus gesagt hat? Ja, ich glaube schon. Selber war sie, Lydia, aus Kleinasien, aus Thyatira, gekommen, aus einem Ort, an dem die griechischen Götter verehrt wurden. Dann hatte sie sich dem Judentum angenähert; der eine Gott hatte sich gegen die vielen Götter durchgesetzt. Jetzt bekommt ihr Leben eine neue, letzte Wendung durch das Evangelium. Es gibt nicht nur einen Gott. Sondern Gott kommt durch Jesus Christus auf alle Menschen zu. Alle haben dadurch Zugang zu Gott, alle sind und bleiben bei ihm ewig zu Hause. Denn wenn Gott zu ihnen kommt – dann, erst dann –, sind sie selbst ganz bei sich angekommen. Denn um ihre Zukunft brauchen sie sich nicht mehr sorgen. Indem Gott Jesus auferweckt hat – so hat es Paulus auch anderwärts verkündigt –, hat Gott die Zeit der ganzen Welt für alle Menschen in der Welt geöffnet. Sie gehören zu ihm. Das muß Lydia gehört haben, als sie zuhörte, und das muß ihr in den Ohren geklungen haben; das muß es gewesen sein, was ihr Herz auftat. Das ist das große Geheimnis in unserer Geschichte, das sich nur dem erschließt, der wie Lydia hinhört und zuhört.
Was hören wir hier, heute, in der Thomaskirche? Worte, Geschichten wie diese, gewiß. Worte, die vielleicht auch unser Herz erreichen. 
Aber vor allem, Musik: Mendelssohn und Bach. Was wir hören, von der Orgel her, das regt uns unweigerlich an, hinzuhören. Darum sind wir ja auch hier. Daß wir die Musik von den Geräuschen, die uns alltäglich umgeben, unterscheiden. Wir hören es: Es ist etwas Besonderes, was sich da ereignet, ohne daß wir schon genau sagen könnten, was es ist. 
Wenn wir dann zuhören, wenn wir auf das merken, was in der Musik geschieht, können wir gar nicht anders als annehmen, was uns da entgegenkommt. Ohne daß wir es beabsichtigen könnten, ohne daß wir es uns vornehmen müßten, werden wir am Ende dazugehören – zu denen, die von der Musik erreicht und durchdrungen werden. Eigentlich eine einfache Geschichte. Aber mitten drin: Ein großes Geheimnis. 
Was hat es mit diesem Geheimnis auf sich? Es steckt in der Musik – und es steckt in uns selbst. 
Das Geheimnis steckt in der Musik, die wir hier hören: daß sich Töne zusammenfinden, die zusammengehören. Daß eine ganze Welt des Klangs in Harmonien und Dissonanzen entsteht, die ihren Weg durch die Zeit sucht – und am Ende wunderbar zusammenfindet. Daß das Genie der Komponisten diesem Ganzen dient und es absichtslos erklingen läßt, damit es uns genauso absichtslos erfüllt. Daß das Schöne sich in der Zeit ereignet und nie vergeht, auch wenn das Stück zu Ende ist. Das ist die Seite der Musik. Wunderbar genug.
Und wir selbst, die wir zuhören? Es steckt auch in uns ein Verlangen, das vielfältig Verschiedene in unserem Leben in einen Zusammenhang zu bringen. Damit es zu einem Ganzen findet, das wir nicht selbst gemacht haben; ja, daß wir auch gar nicht selbst machen können. Damit wir durch die Erschütterungen und Freuden des Lebens bei uns selbst bleiben und darum in der Lage sind, froh und frei mit anderen Menschen zusammenzuleben. Damit wir die Welt im Ganzen als eine erleben, die allem, was lebt, Raum gibt und Zeit läßt. Das ist unsere Seite, gespannt und erwartungsvoll genug.
Im Hören, hier in der Thomaskirche, da kommt beides, geheimnisvoll und wunderbar, zusammen. Daß sich Worte und Töne, Musik und Sprache zusammenfügen. Sie bleiben nicht nur nebeneinander stehen, Musik und Wort. Sie suchen einander. Die Sprache geht, singend, in die Musik über. Die Musik verweist auf die Sprache, die ihren Sinn dann auch in Worte zu fassen sucht.
Haben Sie es gehört, zu Beginn? Wie in Mendelssohns Sonate, im 1. Satz, auf einmal ein Choral seinen Platz findet? Und welcher! „Was mein Gott will, das g’scheh allzeit, sein Will‘, der ist der beste. Wer Gott vertraut, fest auf ihn baut, den wird er nicht verlassen.“ Das ist der Text zur Musik. Und die Musik sagt nichts anderes als diese Worte.
Und was wir hören werden, nach unserem Choral, in dem unsere Worte zu klingen beginnen: Bachs Fuge über das Magnificat, den Lobgesang der Maria:  „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes.“ Diese Worte der Maria antworten auf das, was im Evangelium und was in der Musik lautwurde. Solche Worte sind es, die das große und wunderbare Geheimnis aussprechen, das in unserer Geschichte, in unserem Leben verborgen liegt.
Im Rhythmus von hören, zuhören und dazugehören geht uns dieses Geheimnis auf, und wir können es selbst erleben. 
Amen.


Gebet
Herr, unser Gott, wir danken dir, daß wir hören können: Worte und Musik, die uns den Sinn vermitteln, den wir zum Leben brauchen. Wir bitten dich: Laß uns hinhören auf das Wichtige und hilf uns, es vom Belanglosen und vom Böswilligen zu unterscheiden. Laß uns zuhören, wenn uns andere Menschen an ihrem Leben anteilgeben, damit wir die Last und Sorge des Lebens gemeinsam tragen. Laß uns dazugehören zu denen, die für Gerechtigkeit und Frieden eintreten, zu denen, die bereit sind zu vergeben und anderen zu helfen.
Wir bitten dich für alle Menschen, denen Gehör verweigert wird. Die um ihr Leben kämpfen müssen: daß sie Zuspruch erfahren. Die klagen, und niemand rührt sich: daß sie verstanden werden. Höre du die, die niemand hört, und mach sie dessen gewiß, daß dein Ohr ihnen immer offen steht.
Wir bitten dich auch für die, die nicht hören wollen. Durchbrich den Panzer ihrer harten Herzen, bewege ihr stolzes Gewissen, öffne ihre verschlossenen Hände.
Dein Wort, Herr, unser Gott, leite uns durch unser Leben.
Mit den Worten Jesu beten wir gemeinsam: