Motettenansprache über BWV 22 "Jesus nahm zu sich die Zwölfe"
- 08.04.2017
- Pfarrer Hundertmark
8.4.2017 zur Kantate „Jesus nahm zu sich die Zwölfe“ BWV 22, St. Thomas zu Leipzig um 15 Uhr
Liebe Motettengemeinde,
Jesus weist auf Veränderungen hin, mit denen seine Jünger werden zurechtkommen müssen. Die Zeit, in der alles so dicht und nah, so gemeinschaftlich und heimelig war, wird bald vorbei sein. Eine Leidenszeit wird anbrechen an deren Ende jedoch die Hoffnung gebende Gewissheit steht, dass mit der Auferstehung eine neue, eine Heilszeit anbricht. So viel Veränderung überforderte die Jüngerschaft Jesu und produzierte Unverständnis. Den zukünftigen Weg, das ihnen zuteilwerdende Heil, sahen sie nicht. Sie konnten es nicht sehn, weil sie ganz gefangen waren im Moment und in den Erlebnissen mit Jesus Christus. Alles war gut. So verwundert es nicht, wenn der Evangelist Lukas nach dieser kurzen Sequenz eine Blindenheilungsgeschichte anschließt. Jesus Christus eröffnet demjenigen, der seine Zukunft nicht mehr sehen konnte, die Augen für einen ganz neuen Weg. Weil der Blinde seine ganze Hoffnung auf Christus setzt, sah er plötzlich, wie sein Lebensweg neu ausgerichtet werden kann. Ähnlich wie den vom Unverständnis geprägten Jünger geht es vielen Christen in unserer Landeskirche. Sie wollen nicht an Veränderungen denken, weil alles, so wie es bisher war in den Gemeinden, schön, heimelig und gut ist. Die gestrige Ausgabe der LVZ berichtete auf ihrer lokalen Titelseite von den großen Veränderungen, die auf die Gemeinden zukommen. Ein erster Versuch endete Anfang der Woche auf der Synode in Dresden im Beschlusschaos. Da wo jedoch rückwärtsgewandtes Beharrungsvermögen mit Solidarität verwechselt wird, zerbricht die Gemeinschaft.
Was sollen wir tun? Sollen wir die Samstagsmotetten der Orgelmusik berauben, weil die Organistenstelle reduziert werden soll? Oder sollen wir Kinder wegschicken, weil es keine Plätze mehr in der Kurrende gibt?
Wir werden das nicht tun. Vielmehr werden wir kämpfen und uns einsetzen dafür, dass Gemeinde in Freiheit und Verantwortung gebaut und gelebt werden kann, ohne dabei die Schwachen aus dem Blick zu verlieren. Kirche wird nur überleben, wenn sie wieder mehr Gemeindekirche und weniger Amtskirche sein wird. Das ist gut ökumenisch gedacht und gilt gleichermaßen für beide großen Konfessionen.
Was dient Christus und seiner Gemeinde? – das scheint mir die drängende Frage unserer Zeit zu sein, wenn wir über kirchliche Strukturen nachzudenken haben. In der Konsequenz der Beantwortung dieser Frage kann die Antwort auch schmerzlich lauten: Aus dieser oder jener Gegend ziehen wir uns zurück, weil die Menschen Gottes Botschaft momentan nicht mehr hören wollen. Und in einer anderen Gegend stärken wir das Wachstum, weil sich dort die Menschen unter Gottes Wort versammeln, weil sie von überall her kommen, um Verkündigung in Worten und Musik zu hören oder weil dort ihr neuer Lebensmittelpunkt ist. Christus wird auferstehen – das heißt immer auch, seine Kirche wird weiterleben. Sie wird es aber nur tun, wenn sie ihn nicht aus den Augen verliert.
Christus nachzufolgen kann auch bedeuten, eine Leidenszeit überstehen zu müssen. Dafür möge er uns bereit machen und stärken. Im Text des Lukasevangeliums steht hier symbolisch Jerusalem als Ort des Sterbens und Auferstehens, also als Ort des schlimmsten Leidens und der größten Hoffnung. Jesus ermuntert seine Jünger ihm nachzufolgen. In J. S. Bachs Bewerbungskantate für das Kantorenamt in Leipzig wird das Evangelium in Richtung einer individuellen, inneren Nachfolge musikalisch und textlich ausgedeutet. Nachdem im Eingangssatz das Jüngerunverständnis, ihre Überforderung mit der angesagten Veränderung und ihre innere Flucht in die gute alte Zeit, in schnellen Noten seinen Ausdruck finden, will die darauffolgende Alt-Arie für die Nachfolge werben. Bemerkenswert ist auch hier die Reihenfolge. Erst da, wo ich mich an Christus wende, mich von ihm leiten lasse, oder, um es reformatorisch auszudrücken, allein auf ihn vertraue, erst da, werde ich die Kraft haben, auch den schweren, den Leidensweg gehen zu können.
Versuchungen, die den Gläubigen zurückholen wollen in die alten Strukturen seines Lebens, bleiben eine reelle Bedrohung. Auf Christus zu vertrauen, ist kein Wellnessprogramm, um die Seele baumeln zu lassen. Es ist immer auch Anfechtung und ein Ringen um den richtigen Weg. Herrlichkeit und Niedrigkeit lassen sich aber nicht voneinander trennen. Genau dafür steht der gestorbene und auferstandene Christus.
Stärkung erfährt der Gläubige wie auch die Gemeinde dort, wo sich allein auf Christus verlassen wird.
„Mein alles in allem, mein ewiges Gut,
verbess’re das Herze, veränd’re den Mut“,
singt der Tenor im vierten Satz der Kantate. Solchen Mut, solche veränderten Herzen brauchen wir, die den Anfechtungen rückwärtsgewandter Verklärung zu widerstehen vermögen. Folgen wir Christus nach, indem wir uns nicht gleichgültig verhalten gegenüber den vor uns liegenden Herausforderungen. Ich wünsche und hoffe, dass dabei auch mancher sein Herz entdeckt, um zu erkennen, dass es bei allen Problemen trotzdem sinnvoll ist, der Gemeinde die Treue zu halten. Und dass anderen die Augen geöffnet werden, um zu entdecken – es ist für mich noch nicht zu spät, Teil dieser Gemeinschaft zu werden. Amen.
Gebet
Jesus Christus, Erlöser.
Du tröstest, wo der Tod Einzug hält.
Wir bitten dich um deinen Trost
und deine Hilfe
für die Trauernden
Sieh auf die Toten in St. Petersburg und London.
Sieh auf die mit Giftgas ermordeten Kinder in Syrien.
Sieh auf die Verschleppten und Gefangenen.
Du leidest mit ihnen,
du trägst ihre Verzweiflung auf deinen Schultern.
Du bleibst bei uns, wenn andere uns vergessen.
Wir bitten dich um deine Nähe,
und rufen in deinem Namen:
Vater unser….
Pfarrer Martin Hundertmark, St. Thomas zu Leipzig (hundertmark@thomaskirche.org)