Motettenansprache Kantate zum Michaelstag, BWV 130

  • 28.09.2024
  • Pfarrer i.R. Christian Wolff

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Lesung

Und schon brach der Kampf aus,

der Krieg in den Himmeln.

Michael und seine Engel

kämpften gegen den Drachen,

und der Drache, mit seinen Engeln,

kämpfte gegen Michael.

Aber siegen - weil er zu schwach war -

konnte er nicht:

Keine Stätte war mehr für den Drachen und seine Engel,

kein Ort in den Himmeln.

Hinab auf die Erde

wurde der mächtige Drache geworfen,

die uralte Schlange,

die Teufel heißt und Satanas,

Mordengel der Welt,

Verderber der Menschen,

und seine Boten

wurden hinabgeschleudert mit ihm.

 

Ich aber hörte die große Stimme am Himmel,

die rief:

Angebrochen sind nun die Tage des Heils.

O Stunde der Rettung!

Eingesetzt ist unser Gott in seine Herrschaft

und mit ihm sein Sohn, der Gesalbte.

Denn hinabgeworfen wurde der Beschuldiger meiner Brüder,

der Schreckensmann, der sie angeklagt hat

bei Tag und bei Nacht

vor dem Angesicht unseres Gottes.

Sie aber, die Brüder,

haben den Teufel besiegt,

überwunden haben sie Satan,

weil das Lamm sein Blut vergoss,

und sie festhielten am WORT

und für den Gesalbten Zeugnis ablegten.

Ihr Leben gaben sie

und haben den Tod nicht gefürchtet.

Glücklich! Glücklich die Himmel!

Glücklich alle, die in ihm wohnen.

Und wehe! Wehe Euch, Erde und Meere!

Der Teufel kam zu Euch hinab,

und seine Wut ist groß.

Er weiß: Die Frist ist kurz,

die ihm gegeben ist.

Offenbarung 12,7-12 (nach der Übersetzung von Walter Jens)

 

 

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847)

Denn er hat seinen Engeln befohlen

Motette für acht Stimmen, MWV B53

 

Johann Sebastian Bach (1685-1750, Thomaskantor 1723-1750)

Jesu, meine Freude

Motette für fünfstimmigen Chor und Basso continuo, BWV 227

 

Johann Sebastian Bach

Herr Gott, dich loben alle wir

Kantate zum Michaelstag, BWV 130

 

Ansprache

Nomen est omen - Namen sind Programm. So auch Michael, auf deutsch: „Wer ist wie Gott". Wo immer dieser Name ausgesprochen wird, steht die Frage im Raum: Wer ist wie Gott? Eine Frage des Staunens, der Ehrfurcht, aber sicher auch eine Form des Protestes - Protest gegen die Mächte, die sich hier auf Erden wie Gott gebärden – und die darum wenig mit dem Himmel, aber viel mit der Hölle, die sie unter den Menschen anrichten, zu tun haben.

 

Heute ist die Frage „Wer ist wie Gott“ ebenso unzeitgemäß wie das Gedenken an einen Erzengel mit Namen Michael. Der Michaelistag am 29. September eines jeden Jahres ist fast ganz aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden. Zwar tragen viele Kirchen, vor allem in Italien, den Namen Michael. Zwar galt Michael als Schutzpatron des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation. Doch ist davon nur übriggeblieben die wenig schmeichelhafte Redewendung vom „deutschen Michel" als Inbegriff des biederen Spießbürgers und die monumentale Engelsfigur am Völkerschlachtdenkmal in Leipzig.

 

1724 komponierte Johann Sebastian Bach zum Michaelisfest, damals verbunden mit einem großen Markt- und Messespektakel (insofern ist es durchaus sinnfällig, dass morgen in Leipzig verkaufsoffener Sonntag ist), die Kantate „Herr Gott, dich loben alle wir". Hintergrund dieser Kantate sind die biblischen Geschichten, in denen vom Wirken des Erzengel Michael erzählt wird. Im Buch Daniel wird berichtet, dass Michael dem Löwen den Rachen zuhält, so dass Daniel - den Raubtieren zum Fraß vorgeworfen - nicht zerfleischt wird. Auch die drei Männer, die sich weigerten, das goldene Götzenbild anzubeten und daraufhin in einen Feuerofen geworfen werden, bewahrt Michael vor dem sicheren Tod. An diese beiden Ereignisse wird im Sopran/Tenor-Rezitativ der Kantate erinnert.

 

Im letzten Buch unserer Bibel, der Offenbarung des Johannes, führt Michael einen Kampf mit dem Drachen aus. Wir haben in der Lesung gehört, wie Michael das Ungeheuer aus dem Himmel auf die Erde schleudert. Damit können Schlange, Satan und Teufel, die sich in der Drachenfigur vereinen, im Himmel nichts mehr gegen die Menschen ausrichten, treiben aber nun auf Erden ihr Unwesen. Die Bass-Arie der Kantate nimmt auf diesen Sturz der Satansmächte Erde Bezug, während in der Tenor-Arie die Bitte heiter-bewegt gesungen wird: Michael möge dafür sorgen, dass die rechtschaffenen Menschen den Himmel, diese Satan freie Zone, erreichen.

 

Heute verschwenden wir nur noch wenige Gedanken auf Engelwesen. Zwar machen sich die beiden Engelsköpfe von Raphael aus der Sixtinischen Kapelle gut als Dekors gehobener Konsumansprüche. Manchem kommt auch noch die Redewendung vom Schutzengel in den Sinn. Und wenn Mendelssohns „Denn er hat seinen Engeln befohlen“ erklingt und damit mancher an seinen Taufspruch erinnert wird, stellt sich beseelte Stimmung ein. Wir haben es gerade erlebt - aber damit hört es schon auf.

 

Und doch: Projizieren wir nicht oft genug unseren Kampf zwischen Gut und Böse, unser Ringen um Richtig und Falsch, unsere aggressive Selbstbehauptung in einer kalt gewordenen Konkurrenzgesellschaft in Phantasiefiguren von Starwars oder dem 13. Krieger, die weniger Engelszüge als Schreckensfratzen tragen? Michael ist dagegen wie alle Engel ein Wesen, der die Zuwendung Gottes zu den Menschen signalisiert. Wer wünschte sich nicht, im Feuerofen seiner Anfechtungen und Minderwertigkeitsgefühle vor dem Flammentod bewahrt zu werden? Wer wünschte sich nicht den Beistand eines Michael, wenn man sich - wie in einer Löwengrube umgeben von raubenden Horden - allein durchs Leben kämpfen muss. Wer hofft nicht darauf, dass wenigstens vor Gott die krankhafte Selbstbehauptung zum Ende kommt?

 

Die Bilder, die sich in der Kantate auftun, haben einen Sinn: Sie sollen eine Brücke schlagen zwischen dem unendlich fremden, weit entfernten, uns so verborgenen Gott und unserem Leben, das oft genug in tiefer Einsamkeit und Verlorenheit zu versinken droht. Engel wie Michael künden davon, dass Gott unter uns Menschen wohnt, gegenwärtig handelt, uns in der Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse nicht allein lässt und uns gleichzeitig vor Allmachtansprüchen bewahren will.

 

So verkörpert der Erzengel Michael die zur Gestalt gewordene Widerstandskraft und Lebenshoffnung des Glaubens. Beides haben wir nötig, wenn wir als Christen aufrechten Ganges in unserer Gesellschaft bestehen wollen. Und alles beginnt mit der Frage: Wer ist wie Gott? Wo gibt es einen Gott wie den, der mit Jesus Christus Mensch unter Menschen wird? Der das Böse mit dem Guten überwindet? Der als letzte Vision nicht die Zerstörung, sondern den Schalom, Frieden und Gerechtigkeit eröffnet? Der uns nicht verführt, sondern mit Jesus ein überzeugendes Angebot der Nachfolge bereithält? Der uns nicht verurteilt, sondern mit seiner Gnade überwindet und uns Widerstandskraft verleiht: „Trotz dem alten Drachen“ und Zuversicht schenkt: „Weicht, ihr Trauergeister“.

 

Johann Sebastian Bach leitet mit seiner festlich und kontrastreich komponierten Kantate dieses ehrfürchtige Staunen über in ein groß angelegtes Lob Gottes. Dieses Lob wird da zum Protest und zur Widerstandskraft, wo die Krakenarme der sich zum Gott selbst erhebenden Diktatoren und Mächte unserer Freiheit zu bemächtigen suchen. Es wird unserem Land guttun, wenn vom Staunen, der Ehrfurcht und dem Lob und damit auch vom Protest beim „deutschen Michel“, also bei jedem und jeder von uns, mehr sichtbar wird.

 

 

Gebet

 

Unser Gott,

in den Tiefen unserer Lebensgruben,

in den hitzigen Gefechten

zwischen Gut und Böse,

in aller Ausweglosigkeit

lässt du uns nicht allein.

Du kommst mit Jesus Christus

als Mensch unter uns Menschen entgegen.

Darum können wir nur

staunend und lobend fragen:

wer ist so wie du, Gott,

der uns aufhilft und bewahrt,

der barmherzig und nachsichtig ist?

Wir danken dir

mit unserem Gebet

 

Vater unser im Himmel ...

 

 

Christian Wolff, Pfarrer i.R.

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