Motettenansprache im Kantatenring "Herr Jesu Christ, wahr´Mensch und Gott" und "Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem"

  • 09.06.2018
  • Pfarrer Hundertmark

Motettenansprache am 09.06.2018, St. Thomas zu Leipzig um 15 Uhr, Kantatenring 3 BWV 159 und 127

Liebe Kantatenringbesucher, liebe Motettengemeinde

In J. R. R. Tolkins Epos vom Ring, wird jenem einen besondere Kraft und Macht zugewiesen. Würde man den im Ring eingravierten Spruch auf den Kantatenring übertragen, dann müsste es wohl heißen:

„Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, nach Leipzig zu treiben und dort ewig zu binden.“

der Kantatenring begeistert noch und ich hoffe, sie halten gut durch. Angelehnt an das Kirchenjahr, sind wir im Kantatenring am letzten Sonntag vor der Passionszeit angekommen. Er trägt den Namen „Estomihi“ (Sei mir ein starker Fels) und bildet den Auftakt zum Passionsgeschehen Jesu Christi. Gleich im ersten Satz von Bachs Kantate „Sehet, wir gehen hinauf nach Jerusalem“ wird im Zwiegespräch zwischen Jesus (vom Bass gesungen) und dem Menschen (vom Alt gesungen) deutlich, mit welchem Ziel Jesus Mensch geworden ist und den menschlichen Weg geht – Es ist das Ziel der Erlösung vom Tod und die Überbrückung der Gottesferne. Dabei wird in Bachs Vertonung nicht primär auf die allgemeine Menschheit abgehoben, sondern der Akzent auf das „Ich“ gelegt. Das bedeutet:

Jesu schwerer Weg nach Jerusalem, dem Ort der Kreuzigung, ist ein Weg, den er für mich geht. Fragt man nach dem Grund, so gibt es dafür nur eine Antwort: Weil ich kleines, unbedeutendes Menschenkind diesem Gottessohn wichtig und wertvoll bin.

Wo die Seele des Gläubigen das realisiert, da gibt es im Herzen Veränderung. Der zweite Satz erzählt uns musikalisch von der Nachfolge des Christen. Nachfolge bedarf manchmal der täglichen Entscheidung. In einer Gesellschaft, die maßgeblich geprägt ist von vielen Optionen für den Einzelnen, kommt es nicht selten vor, dass die Orientierung verloren geht. Die Kantate ermutigt uns dazu, Entscheidungen als Nachfolgeentscheidungen auf dem Weg Christi zu treffen oder, um es mit Luther auszudrücken:

Prüfe, woran du dein Herz hängst, denn das ist dein Gott.

Hat Jesus Christus wirklich noch eine Chance, in meiner Brust, in meinem Herzen Platz zu finden bei all den vielen Dingen, die dort umherschwirren, die Denken und Tun bestimmen? Bei ernster Prüfung bzw. Beantwortung dieser Frage, werden wir wohl doch eher in Erschrecken geraten. Nachfolge Christi bedeutet, eigene Entscheidungen an dem auszurichten, was Jesus Christus gelebt und gelehrt hat – Menschen zu allererst mit Liebe zu begegnen.

Andere Länder, andere Lebens- und Liebesentwürfe nicht zuerst feindlich zu betrachten, sondern zu prüfen, was Christus und dem Nächsten dient – so lässt sich Nachfolge heute beschreiben. Dass dabei gelegentlich eigene Interessen hinter denen anderer, Bedürftigerer zurückstehen sollten, ist am Ende nur konsequent.

Da wir eingangs feststellten, dass Christi Weg nach Jerusalem ein Weg für mich ist, nützt es nichts, auf „die da Oben“ zu verweisen. Vielmehr muss auch ich nun schauen, wo meine Möglichkeiten der Nachfolge sind. Zum Beispiel Gesprächsbereitschaft zeigen, wenn alle nur voll Hass und Wut schimpfen. Oder wie Jesus Ungerechtigkeiten zur Sprache und damit ans Licht zu bringen auch um den Preis, dass dafür kein Applaus, sondern Widerstand zu erwarten ist.

In der zu hörenden Kantate „Herr, Jesu Christ, wahr´ Mensch und Gott“ wird über das reine Passionsgeschehen hinaus geblickt. Dabei reflektiert der Kantatentext sowohl das Christusgeschehen, wie eben dargestellt, wie auch den Weg zur eigenen Erlösung. Die Sopranarie erzählt von der Vergewisserung eines angstfreien Sterbens, weil sich die Seele in Gott geborgen weiß und darauf vertraut, dass jener sie wieder auferwecken wird in eine andere, in die himmlische Gemeinschaft.

Dass der Kantate zugrunde liegenden Kirchenlied von Paul Eber entfaltet evangelisch-lutherische Theologie in Gänze. So erzählt der erste Satz von der Barmherzigkeit, auf die der Mensch angewiesen ist: „Du wollst mir Sünder gnädig sein.“ Sünde bedeutet in diesem Zusammenhang Gottesferne, also jenes Bestreben des Menschen, sich selber an Gottesstatt zu setzen und den eigenen Kräften alles allein zuzutrauen.

Im vierten Satz, untermalt von Trompeten- und Fanfarenrufen, die stark an das in der Matthäuspassion später vorfindliche „Sind Blitze und Donner in Wolken verschwunden“, wird das Jüngste Gericht musikalisch interpretiert. Was benötigt der Mensch, um da, wo er vor Gott Rechenschaft ablegen muss, nicht kaputt geht? Er braucht einen Fürsprecher. Und zwar einen einzigen – keine Heilige, kein Stellvertreter oder für ihn betende Maria – sondern solus christus.

„So wollest du allein,
O Jesu, mein Fürsprecher sein.“

Wo solch eine Erkenntnis im Glauben bekannt und erfasst wird, da leuchtet hell das Licht der Gnade Gottes aus seiner Ewigkeit entgegen. Der Zuspruch Jesu findet sich im zweiten Teil des Satzes. „Nur halte dich, Mein Kind, an mich Ich breche mit starker und helfender Hand Des Todes gewaltig geschlossenes Band.“ So singt die Cristusstimme und gibt dadurch Vergewisserung. Todbringende, zerstörerische, lebensfeindliche Kräfte haben keine letzte und endgültige Macht über mein Leben. Gleiches gilt für die Fehler, die mir unterlaufen. Daraus kann dem Glaubenden Mut erwachsen, auch Dinge zu wagen, die für die Umstehenden unmöglich erscheinen.

Und auch dies:

Himmel und Erde, das heißt: bestehenden Herrschafts- oder Machtverhältnisse, sind nicht ewig. Sie werden vergehen, aber Christi Herrschaft der zuwendenden Liebe bleibt über alle vorstellbaren Zeithorizonte hinaus. Angesichts einiger gerade aktuellen Herrscher, Präsidenten, Diktatoren, ist dieser Gedanke, umso tröstlicher. Amen.

 

Gebet

Herr, Jesus Christus, öffne unsere Augen für die Menschen, die im Elend sind, weil sie hungern müssen, kein Obdach haben oder für ihr Leben keine Zukunft sehen. Zeige uns Wege zu helfen, indem wir vom Überfluss abgeben oder das Wort ergreifen, um ihre Not zur Sprache zu bringen.

Dafür stärke uns die Kraft deines Geistes. Amen.