Motettenansprache „Ich lasse dich nicht“, BWV 1165
- 13.06.2025
- Kirchenrat Lüder Laskowski
Johann Sebastian Bach „Ich lasse dich nicht“, BWV 1165
Motette für 2 vierstimmige Chöre und Basso continuo
„Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn, mein Jesu!“
Genesis 32, 27
CANTUS FIRMUS IM SOPRAN
„Weil du mein Gott und Vater bist, / dein Kind wirst du verlassen nicht, / du väterliches Herz. / Ich bin ein armer Erdenkloß, / auf Erden weiß ich keinen Trost.“
Strophe 3 aus „Warum betrübst du dich, mein Herz“ (Nürnberg 1561)
Liebe Motettengemeinde,
Ich gehe weit hinaus aus diesem Raum, hinaus in die Stadt, um ihnen etwas zu erzählen. Kommen Sie doch mit.
Inzwischen würden die Knochen hart auf dem Kunststoff liegen. Es ist ja nur noch wenig um sie herum. Darum nimmt sie sich ein Kissen mit ans Fenster am sonnigen Nachmittag. Sie legt es auf den Rahmen und dann darauf ihre Arme. Warm ist das Licht im Gesicht und warm liegen die Ellenbogen auf dem Polster. Stundenlang sieht sie auf den Hof. Sie weiß inzwischen genau, wer in den einzelnen Aufgängen wohnt. Dabei ist es in den letzten Jahren unübersichtlicher geworden. Ihre alten Bekannten sind zumeist nicht mehr da. Aus aller Welt sind die Menschen, die jetzt hier wohnen. Inzwischen schaut sie milder auf die unterschiedlichen Lebensgewohnheiten. Auf alle Fälle ist es schön, dass dort unten wieder Fußball gespielt wird.
Gehänselt wird dabei immer noch, so gemein wie früher auch schon. Nennt sich wohl jetzt Mobbing. Am Rand steht ein Junge oft allein. Wenn er kommt, schaut er sehnsüchtig auf die zerschundene Wiese, über die der Ball springt. Dann dreht er sich weg, schnappt sich sein Telefon, setzt sich auf die Rasenkante am Wäscheplatz und taucht für Stunden ab.
Sie trifft ihn später wieder, unten im Durchgang, als sie ihren Wagen zum Einkauf schiebt. Er schlurft um die Ecke, so kraftlos, wie sie selbst inzwischen. Bei ihr ist es der Leib, der nicht mehr will, bei ihm ist es die Seele. Um das zu wissen, muss sie gar nicht mit ihm sprechen. Er sieht sie nicht, starrt auf den Bildschirm, den Kopf gesenkt. Schreckt erst auf, als er vor ihr steht. Sie kann nicht anders. Ihre schmale blaugeaderte Hand lässt den Griff des Gehwagens los. Sie hebt sie und legt sie auf den Kopf des Jungen. Der steht wie ein Stein. „Gott segne dich, mein Junge. Er segne dich und schenke dir Freude.“ Sein Blick ist blau. Als sie wieder aufsieht, stehen am lichten Ende des Durchgangs eine Frau mit Kopftuch und ihr neuer Nachbar mit dem Bierbauch. Beide neigen verwundert den Kopf.
Ich komme zurück hierher in die Thomaskirche, in die Motette. Hier könnte man über den Segen lange reden. Beispielsweise wäre es möglich, sich den Text näher anzusehen, den Johann Sebastian Bach für die in der Lesung gesungene Motette verwendet. Man stieße auf die faszinierende Geschichte des Erzvaters Jakob, der einem Unbekannten den Segen abtrotzt, mit dem er eine Nacht am Bächlein Jabbok gerungen hatte. Es ist eine jener Stellen im Alten Testament, in der uns in einer Geschichte ein wichtiger Aspekt des Verhältnisses von Mensch und Gott nahegebracht wird. Es ist ein Ringen, ein Dennoch, ein Festhalten am Unfasslichen. Oft auch unter Schmerzen, mit bleibenden Verletzungen, mit Enttäuschungen verbunden. Jakob aber ruft zuletzt doch: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“
Oder man könnte fragen, warum Bach diesen Satz erweitert hat. Was ihm wichtig daran war, dass sich die bei Jakob noch unfassliche Gestalt nun konkretisiert, zu einer leiblich fassbaren Persönlichkeit. „… mein Jesus!“ So endet sein Ruf. Es ist ein christlicher Akzent, der hinzutritt. Der segnende Jesus ist ikonisch. „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht! Denn solchen gehört das Reich Gottes.“ Mit diesem Satz beginnt Jesus Kinder zu segnen – die damals niemand wirklich ernstnahm. Sie waren Halbwesen, noch nicht ganz auf der Welt, auf Abruf. Zur Zeit Jesu starb die Hälfte der lebend geborenen Kinder vor dem fünften Lebensjahr. Mehr als die Hälfte zu Bachs Zeiten erlebten das 12. Lebensjahr nicht. Jesus aber hebt alle Distanz zu ihnen auf. Er ruft die Kinder zu den Lebenden. Er versöhnt mit seinem Segen – die verletzlichen und – man sehe auf Bachs Trauer um seine Kinder – die verletzten Menschen und den unfasslichen Gott.
Oder man hätte die Möglichkeit, sich dem Cantus firmus zuzuwenden, den Bach als inhaltliche Erweiterung nutzt. Es wird vermutet, dass die Motette als Begräbnismusik für eine Frau Bürgermeister in Arnstadt entstanden ist. Bach nimmt den zu seiner Zeit bereits alten Choral, um der Segensbitte vor einem dunklen Hintergrund Nachdruck zu verleihen. Der literarische und musikalische Kontrapunkt spricht von der Zerrissenheit in der alle Menschen verletzlich stehen, in der schon Jakob stand, in die Jesus wie kein anderer dazwischen zu treten wusste mit seinem Segen. Um zu transformieren, um zu versöhnen. „… dein Kind wirst du verlassen nicht, …“ heißt es im Cantus firmus.
Über den Segen könnte man wirklich lange reden. Letztlich aber muss man ihn verschenken oder empfangen, um ihn zu verstehen. Denn er spricht für sich, wenn man ihn spürt. Da ist mehr, als sich Menschen gegenseitig zusprechen könnten, bei aller Liebe oder Freundschaft, in Zuneigung oder Mitleid, in Angst oder Hoffnung. Ein Plus, das nicht gegriffen werden kann, aber wirkt. Im Segen fließt Gott selbst. So würde es die alte Dame sagen, als sie sieht, wie der Junge sich von ihrem Blick löst und davongeht, aufrecht, hoch erhobenen Kopfes, fast auf Zehenspitzen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.