Motettenansprache

  • 17.11.2023
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Motettenansprache am 17. November 2023 St. Thomas zu Leipzig um 18 Uhr

 

Liebe Motettengemeinde,

vom ersten Atemzug an bewegt sich das menschliche Leben auf den Tod zu. Der Philosoph Martin Heidegger hat in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ unser menschliches Dasein als „ein Sein zum Tode“ beschrieben.

Jeder erlebte Morgen ist ein Tag weniger von der uns zugemessenen Lebenszeit.

Halten wir uns dies vor Augen, könnte daraus eine große Verzweiflung entstehen.

Warum leben, wenn doch alles auf den Tod hinausläuft? Wieso Verantwortung übernehmen, wo morgen schon alles vorbei sein könnte?

Mancher Zeitgenosse wird über solchen Gedanken an der Seele krank.

Der allmorgendliche Blick in den Spiegel führt uns manchmal sehr drastisch vor Augen, wie angstbesetzt das Thema „Vergänglichkeit“ ist.

Von daher suchen wir eher zu verdrängen, was doch offensichtlich ist;

und es gelingt uns meistens sehr gut.  

Die letzten Tage im Kirchenjahr konfrontieren uns mit ihren liturgischen Texten, mit der dazu komponierten Musik und den entsprechenden Gebeten mit dem Thema „Vergänglichkeit“.

 

Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben!

Wie ein Nebel bald entstehet,

und bald wiederum vergehet;

so ist unser Leben; sehet!

hörten wir eben aus der Motette

„Unser Leben ist ein Schatten“ von Johann Bach.

Dabei wird dann sehr schnell deutlich:

Wir sind als Menschen nur ein Schatten, eine blühende Blume, die für einen Tag erfreut und schnell verwelkt oder wie ein sich verflüchtigender Nebel.

Texte und Musik zwingen uns gewissermaßen zur Auseinandersetzung, auch mit der Frage, welche Verantwortung habe ich eigentlich?

Und wo bin ich selber verankert, wenn das, was stabil ist, plötzlich anfängt zu wanken?

Also suchen wir nach Trost und Stärkung;

Trost und Stärkung für ein Leben unter den Bedingungen des flüchtigen und gebrochenen Daseins.

Eine Erkenntnis aus dem Hören und Lesen der endzeitlichen Musik und Texte könnte sein, dass unser Blick für die Gegenwart geschärft wird, dass eben nicht die niederdrückenden Kräfte ihre Macht ausüben, sondern die Gedanken Oberhand gewinnen:

Alles ist ein wunderbares Geschenk.

Jeder Tag und jede Stunde.

So wir dies tun, dürfen wir uns auch klar machen:

Vergänglichkeit ist nichts anderes als das Ausrufezeichen, in der Gegenwart zu leben.

 

Daraus erschließt sich ein Leben in Verantwortung - vor sich selbst und in Verantwortung für die nachfolgende Generation. Gerade weil morgen alles vorbei sein kann, nehme ich heute den Spaten und pflanze das Apfelbäumchen. Einen Baum zu pflanzen, liebe letzte Generation, ist für den Klimaschutz übrigens viel wertvoller als durch sinnlose Aktionen für Staus in den Städten zu sorgen. Zugegeben. Bäume zu pflanzen ist nicht so medienwirksam.

Weil menschliches Leben häufig wie ein sich auflösender Novembernebel empfunden wird, lasse ich mich nicht von dieser Flüchtigkeit ängstigen. Ganz im Gegenteil: Ich sehe zu, wie die mir geschenkte Zeit sinnvoll genutzt werden kann.

Am Ende kann das alles sehr entlastend sein. Denn wir Menschen müssen nicht für die Ewigkeit sorgen, weder mit unseren Werken noch mit unserem Besitz.

Wofür wir aber Sorge tragen ist, an den Sorgen, die uns überfallen können, nicht zugrunde zu gehen. Auch sie sind der Vergänglichkeit unterworfen, wie auch alle Ungerechtigkeiten.

Im Choral heißt es am Ende:

 

Ach wie nichtig, ach wie flüchtig sind der Menschen Sachen!

Alles, alles, was wir sehen,

das muss fallen und vergehen;

wer Gott fürcht’, bleibt ewig stehen!

 

 

Der Mensch ist verankert in der Gewissheit:

trotz aller Vergänglichkeit bin ich nicht verloren.

Vielmehr birgt mich ein gnädiger und barmherziger Gott in seiner Liebe. Dafür verbürgt er sich durch Jesus Christus, der den vergänglichen Weg mit all den Schmerzen und den Tränen, mit all dem Leid und Spott selbst gegangen ist.

Am Ende seines Weges ist ein neues und unvergängliches Leben in Gottes Herrlichkeit.

Daran glauben zu können, ist ebenfalls ein großes Geschenk. Denn manches, was beschwerlich ist, leuchtet im Lichte dieser Herrlichkeit ganz anders. Erfahrenes Leid wird nicht durch Vertröstung auf das Jenseits versüßt. Es wird dort aufgehoben und hat somit keine Relevanz mehr.

Wege zum gelingenden Leben gibt es zahlreich. Unsere eigenen Möglichkeiten dafür sind groß. Nutzen wir sie in Verantwortung und Nächstenliebe.

 

Ja, der Mensch lebt und besteht nur eine kleine Zeit, und ja, alle Welt vergehet, liebe Motettengemeinde.

Mag das menschliche Sein realistisch betrachtet als ein Sein zum Tode beschrieben werden. Darüber will und werde ich nicht in Verzweiflung geraten. Denn meine ganz persönliche Existenz wird ein Sein zum Leben sein. Dessen bin ich mir im Glauben an Jesus Christus gewiss. Zu diesem Glauben will ich immer wieder einladen. Amen.