Motettenansprache

  • 19.03.2022
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Motette am 19. März 2022

Christoph Graupner (*23.01.1683, Kirchberg; †10.05.1760, Darmstadt)

Ach Gott, wie lange soll der Widerwärtige GWV 1122/53 (1753)

Kantate zum Sonntag Oculi für Sopran, Tenor, Bass, Chor, 2 Flöten, 2 Fagotte, 2 Hörner, Streicher und Basso continuo

Dictum/Accompagnato (Tenor und Bass)

Ach Gott, wie lange soll der Widerwärtige schmähen und der Feind Deinen Namen so gar lästern?

Wenn Gottes Sohn des Teufels Werk zerstöret, so hats die Welt nur ihren Hohn. Sie spricht (ists je erhöret?), der Teufel hab es selbst getan. Verwegnes Wort, boshafter Wahn! So gedenke doch des, dass der Feind den Herrn schmähet und ein töricht Volk lästert Deinen Namen. Ihr Lästergift soll heil’ger Eifer heißen. Ach! Wohl vor Satans Ehr! Sie gleißen In Satzungen, in übertünchter Lehr‘. Im Leben sind sie frech und wild, entlarve doch, Herr, dieses Höllenbild.

Arie (Bass)

Beuget euch, ihr Höllensklaven, Gottes Finger macht euch frei. Kommt und eilt zum Freiheitsstande, werft doch weg die Höllenbande, Gottes Sohn reißt sie entzwei.

 

Rezitativ (Sopran)

Wer aber achtet dies? Sie sind von Satans Macht besessen; Doch ist ihr Herz vermessen, es liebt die Finsternis. Das Rettungslicht will ihre düstre Augen blenden; sie sehen und verstehen nicht das Gnadenwerk von Jesus Händen, das sie zur Freiheit reizen soll. Wie ist die Welt so blind, so toll!

Arie (Sopran)

Ich sehe, Jesu, Deine Gnade, hie bin ich Arme, rette mich. Will die Welt deswegen schmähen, so will ich Deinen Ruhm vermehren. Wer Dich nicht ehrt, der hasset sich.

Accompagnato (Tenor)

Und setzt der Feind aufs neue an, so wird mich Deine Hand bedecken dass er nicht schaden kann. Ich will dafür mich Deinen Diener nennen, kein Feind, kein Schrecken soll mich von diesem Vorsatz trennen.

Choral

Kein Engel, keine Freuden, kein Thron, kein‘ Herrlichkeit, kein Fliehen und kein Leiden, kein Angst und Fährlichkeit, was man nur kann erdenken, es sei klein oder groß, der‘ Keines soll mich lenken aus Deinem Arm und Schoß.

Johann Conrad Lichtenberg

 

Und Jesus trieb einen Dämon aus, der war stumm. Und es geschah, als der Dämon ausfuhr, da redete der Stumme, und die Menge verwunderte sich. 15 Einige aber unter ihnen sprachen: Er treibt die Dämonen aus durch Beelzebul, den Obersten der Dämonen. 16 Andere aber versuchten ihn und forderten von ihm ein Zeichen vom Himmel. 17 Er aber kannte ihre Gedanken und sprach zu ihnen: Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet und ein Haus fällt über das andre. 18 Ist aber der Satan auch mit sich selbst uneins, wie kann sein Reich bestehen? Denn ihr sagt, ich treibe die Dämonen aus durch Beelzebul. 19 Wenn aber ich die Dämonen durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein. 20 Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen. 21 Wenn ein gewappneter Starker seinen Palast bewacht, so bleibt, was er hat, in Frieden. 22 Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seine Rüstung, auf die er sich verließ, und verteilt die Beute. 23 Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut. 24 Wenn der unreine Geist von einem Menschen ausgefahren ist, so durchstreift er dürre Stätten, sucht Ruhe und findet sie nicht; dann spricht er: Ich will wieder zurückkehren in mein Haus, aus dem ich fortgegangen bin. 25 Und wenn er kommt, so findet er's gekehrt und geschmückt. 26 Dann geht er hin und nimmt sieben andre Geister mit sich, die böser sind als er selbst; und wenn sie hineinkommen, wohnen sie dort, und es wird mit diesem Menschen am Ende ärger als zuvor.

Lukas 11,14-26

 

„Ach Gott, wie lange soll der Widerwärtige“, so heißt die Kantate von Christoph Graupner, die wir gleich hören. „Ach Gott, wie lange soll der Widerwärtige“ – in diesen Tagen denkt man da vor allem an einen. Und an die, die ihn unterstützen. Wie brutal sie sind, hemmungslos gewalttätig, menschenverachtend. „Ach Gott, wie lange soll der Widerwärtige“. Das Böse begegnet uns in solch einer Übermacht, dass uns die eben gehörten Worte aus dem Lukasevangelium sehr nahekommen. Da ist von einem Dämon die Rede, der einen Menschen besetzt hält. Die Kantate legt diesen Text aus mit musikalischen und literarischen Mitteln, die es ganz schön in sich haben. Der Bibeltext selbst auch. Da heißt es: Jesus treibt bei jemandem einen Dämon aus, der stumm war. In biblischen Zeiten war es normal an solche Dämonen zu glauben, die Menschen fest im Griff hatten. Auch wenn wir heute nicht mehr von Dämonen sprechen – wir wissen sehr gut, wie Menschen von höchst realen Kräften an der Entfaltung ihres Lebens gehindert werden. In dieser Geschichte wird jemand davon befreit, der stumm ist. Verstummt, seiner Sprache beraubt, ruhiggestellt, man kann das ja sehr facettenreich deuten. Die drumherum stehen, begreifen es nicht. Sie suchen nach einer Erklärung und spekulieren: Da treibt doch einer den Teufel mit dem Beelzebub aus. Und bitte, zum Beweis wollen wir es doch gleich noch mal sehen. Sofort wird versucht, die Dinge innerhalb des eigenen Erklärungshorizonts einzuordnen. Und wo dass nicht recht gelingen mag, wird das Erlebte im wahrsten Sinne des Wortes, verteufelt. Im ersten Satz der Kantate lässt Graupner Tenor und Bass davon singen: Die Welt spricht „der Teufel hab es selbst getan. Verwegnes Wort, boshafter Wahn“. Sie fordern: „Entlarve doch Herr, dies Höllenbild“. Jesus tut das und führt die Logik der Umstehenden mit einem Vergleich ad absurdum: Ein Reich, das mit sich uneins ist, vergeht. Zugespitzt: So dumm ist der Teufel nicht. Er stellt sich nicht selbst ein Bein. In heutige Sprache übersetzt: So leicht lassen uns negative Kräfte nicht los. Sie halten fest, was sie haben und arbeiten nicht gegen sich selbst. Die Kantate betont, wie fest diese Mächte uns halten können – und projizieren das auf die, die es in dieser Geschichte nicht verstehen wollen. In der Bassarie ist von „Höllensklaven“ die Rede und im Sopran-Rezitativ von Satans Macht Besessenen, von ihren „düstren Augen“, ihrem „vermessenen Herzen“. Geradezu erlösend ist es, wie das dann am Ende des Rezitativs aufgelöst wird: Das „Gnadenwerk von Jesu Händen“ soll sie „zur Freiheit reizen“!

Hier folgt die Kantate genau dem, worum es Jesus geht, wenn er heilt. Die Heilung des Stummen ist ein Zeichen dafür, dass Gottes Reich sich gegen allen momentanen Augenschein durchsetzen und diese Kräfte in ihre Schranken gewiesen werden. Dass wir trotz allem Dämonischen, was wir erleben, nicht aufhören darauf zu hoffen. Dass Menschen wieder fähig werden zu tun, wozu Gott uns geschaffen hat. In dem Stummen mögen wir uns dabei durchaus wiedererkennen. Was lässt uns nicht alles verstummen. Und was verschließen wir in uns. Die beiden Jahre mit Corona, wo viele Kinder und Jugendliche sich in sich selbst abgekapselt haben und jetzt in der Schule an dem Druck verzweifeln möchten, mit dem alles nachgeholt werden muss. Und auch vielen Erwachsenen ist es zu viel geworden, der Druck, perfekt funktionieren zu müssen mit Arbeit, Familie, Homeschooling und finanziellen Nöten. Eine Jugendliche aus der Jungen Gemeinde meinte diese Woch „Immer muss ich alles allein entscheiden und fühle mich darauf nicht vorbereitet und nicht begleitet. Ich kann das irgendwie langsam nicht mehr.“ Und dann wird lieber gar nichts mehr verbindlich festgelegt und entschieden. All diese Dinge tragen dazu bei, Leid stumm in sich hinein zu fressen, ohne etwas zu sagen.

Aber wo nichts mehr herausdarf, geht ein Mensch kaputt. Und nicht zuletzt verkümmert dabei seine Sprachfähigkeit. Das wirkt sich aus auf unser Miteinander. Es wird einfach nicht über das gesprochen, worüber gesprochen werden muss. Es ist dann wahrlich ein leichtes Spiel für die Dämonen, in das gekehrte und geschmückte Haus zurückzukommen. So heißt es bei Lukas und in der Kantate im Accompagnato des Tenors: „Und setzt der Feind aufs Neue an …“ Ja, so leicht ist er nicht zu vertreiben, der Widerwärtige. Jesus nimmt seine Kraft ernst. Aber er weiß eben auch von seiner Schwachstelle. In anderen Heilungsgeschichten nennt er die Dämonen beim Namen. Entlarvt sie, spricht aus, was sie tun. Das ist der erste Schritt zu ihrer Entmachtung. Wo ich meinen Dämon benennen kann, sprich, die Dinge, die mich blockieren, die mich stumm und fertig machen, da bin ich erst in der Lage, sie zu bearbeiten, wenn nicht gar zu bekämpfen. Damit sind sie noch da, verlieren aber ihre Macht über mich.

Und davon ist hier die Rede – im biblischen Text wie in der Kantate. Jesus nimmt diese Kräfte ernst, aber er spricht den ständig nach Herrschaft strebenden Prinzipien Angst und Zwang ihre letzte Macht über uns ab. Wo wir verstummt sind, werden wir auch wieder neue Worte finden können. Und kommen neu mit uns und auch mit anderen in Kontakt. Denn das benennt Jesus hier ja letztlich als Ziel seiner heilenden Tätigkeit: Menschen zu sammeln. Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut. Wo man diesen Satz aus seinem Zusammenhang reißt, kann er fatal wirken. Aber hier ist klar, was gemeint ist. Es gibt nur eine Richtung im Reich Gottes: Menschen aufrichten und sprachfähig machen. Und wir sind von Jesus mit dazu beauftragt! So heißt es auch im Tenor Accompagnato der Kantate: „Ich will dafür mich deinen Diener nennen, kein Feind keine Schrecken soll mich von diesem Vorsatz trennen“. Und der abschließende Choral vertieft den Aspekt aus Lukas, dass wir nicht die großen Zeichen vom Himmel fordern oder auf sie warten sollen, sondern selbst welche setzen. Und wenn wir auch nur einen einzigen Menschen dabei erreichen und ihm zeigen, wir stehen ihm bei in dem, was ihn hat verstummen lassen. Das mag uns davor bewahren, vor dem Widerwärtigen zu resignieren.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche

taddiken@thomaskirche.org