Motettenansprache

Ansprache in der Motette zum Schuljahresabschluss SJ 22/23

  • 07.07.2023
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Schuljahresabschlussmotette 7. Juli 2023

 

Liebe Gemeinde und vor allem liebe Thomasser,

vor vier Wochen habt Ihr die Bachmedaille der Stadt Leipzig erhalten. Hier in der Thomaskirche, während des Eröffnungskonzertes des Bachfests. Da gab es viel Musik – und viele Reden. Die besten waren von Euch. bzw. einem ehemaligen Thomasser. Claus Jürgen Wizisla, 93 Jahre alt, hat von dem erzählt, was dieses Jahr am 4. Dezember 80 Jahre her sein wird: die Bombardierung Leipzig, als der Kasten, die Thomasschule und Teile der Stadt Leipzig stark beschädigt wurden. Er bekam in dieser Nacht den Auftrag von Thomaskantor Ramin, nachzusehen, ob die Thomaskirche noch stand. Sie stand! Er hat erzählt, wie ihn diese Nacht geprägt und was überhaupt seine Thomasser-Zeit für ihn bedeutet hat. Er sagte: Da waren die drei Säulen: die der Kirche, die der Schule, die des Chores – und zwischen ihnen lag der ganze Reichtum des Lebens als Thomasser. Und dass das alles erhalten blieb und der Krieg und alles andere es zwar beschädigen, aber nicht zerstören konnte – man merkte ihm an: diese Säulen tragen ihn immer noch. Ich habe lange keinen so aufgeräumten Menschen hier sprechen hören. Und Ihr, Jannes und Du, Jakob, mit 10 Jahren vielleicht als jüngster Festredner aller Zeiten bei solch einem Anlass - Ihr habt genau das auch betont: Was es Euch gibt, ein Teil zu sein dieser Gemeinschaft sein zu können, die sich so lange als stabil und stabilisierend erwiesen hat. Und das nicht, weil alles, was diese Säulen Kirche, Schule, Chor und vor allem die darin tätigen Menschen so zuwege gebracht haben, immer das Gelbe vom Ei war. Bestimmt nicht, da gab es auch sehr viel menschliches und unmenschliches Versagen. Manche sind da auch gebrochen herausgekommen, es gab immer wieder Verwerfungen, Verletzungen und und und.

 

Klar. Aber darum ging es an dem Abend nicht. Sondern darum, zu schauen, wie man diese Säulen in das eigene Lebenshaus integrieren kann. Diese Frage nach den Säulen des Lebens stellt sich nicht nur für Euch Abiturienten, die ihr heute den Chor verlasst. Und sie stellt sich auch nicht nur den Thomassern, sondern allen, die all das verfolgen, was wir hier gemeinsam zu tun versuchen. Sie stellt sich allen, die hierher kommen in die Motetten und Gottesdienste. Ihr Thomasser, ob nun 93 oder 10 Jahre, habt Euch an dem Abend eingeordnet in das, was diese drei Säulen an Reichtum für ein Leben bedeuten können. Eingeordnet – das heißt nicht untergeordnet. Was Ihr tut, füllt Ihr aus mit Eurer Person, so wie ihr seid im Wissen: Vor und nach uns haben Leute das auch getan und davon leben wir schon jetzt. Thomaskantor Georg Christoph Biller hat immer mal gesagt vor dem Chor, aber auch vor dem Kirchenvorstand: „Wir sind nichts Besonderes, aber wir sind an einer großen Sache beteiligt - also beteiligt Euch auch groß!“ Neben vielem anderen Wertvollen lernt ihr ja in der Thomasserzeit, euch in diesem guten Sinne einzuordnen und einzuschätzen. So, wie ihr seid, mit Licht und Schatten.

 

Und davon, wie man sich in diese Haltung einüben kann, singt Ihr auch immer wieder. So wie in der eben von Ha Dong dirigierten Motette von Thomaskantor Moritz Hauptmann:

„Herr, höre mein Gebet, vernimm mein Flehen um deiner Wahrheit willen, um deiner Gnade willen erhöre mich. Und gehe nicht ins Gericht mit deinem Knechte, denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht.“ (Psalm 143, 1.2)

 

Das sind uralte Worte aus Psalm 143. Auch hier ordnet sich jemand ein. Er oder sie scheint zu wissen: Über allem, was ich so zustande kriege oder eben leider auch verzapfe an Unsinn, stehst Du, Gott. Und wo ich meine, die Wahrheit gepachtet zu haben, da korrigiere Du mich bitte. Das haben wir ja ein Leben lang zu lernen: Als Menschen haben oder erkennen wir die Wahrheit nicht, bestenfalls können wir uns ihr annähern. Das kann uns auch und gerade durch Streit und Kontroversen gut gelingen. Aber ich habe das Gefühl, seit einiger Zeit kann sich jede Meinungsverschiedenheit zum Bekenntnisfall entwickeln. Klimakleber, Einwanderung, der Krieg in der Ukraine und was ihn vielleicht beenden könnte - Für und Wider prallen da in einer Schärfe aufeinander als gäbe es kein Morgen. Freundschaften zerbrechen darüber und manchmal denkt man: Oje, bloß nicht so ein Thema ansprechen, sonst ist der schöne Abend vorbei. Befindlichkeiten ersetzen Argumente. Oder jemand sagt, mit Dir könne er oder sie leider nicht reden, denn Du seist ja eh voreingenommen usw. usw. Jedenfalls finden wir uns oft in Gesprächen wieder, wo einer die Wahrheit gepachtet zu haben scheint. Dummerweise ist man es manchmal auch selbst. Ich denke, wir brauchen unter uns eine „Sich-Selbst-Einordnungsoffensive“ – dass wir nicht jedes Thema unendlich aufblasen müssen als gäb‘s nichts anderes. Und dass wir uns auch selbst mehr einzuordnen bereit sind. Die eigene Meinung am anderen zu überprüfen oder – was für eine verwegene Idee – gar zu revidieren. Und nochmals: Befindlichkeiten nicht zu verwechseln mit Argumenten… Es hilft schlicht, sich ab und zu so einzuordnen, wie es der Beter oder die Beterin dieses Psalms tut. Die Wahrheit ist über uns und das Gericht über den anderen, die andere – es kommt uns nicht zu, so gern wir es manchmal so hätten.

 

„Herr, höre mein Gebet, vernimm mein Flehen um deiner Wahrheit willen, um deiner Gnade willen erhöre mich. Und gehe nicht ins Gericht mit deinem Knechte, denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht.“

 

Das sind wirklich zwei gute Psalmverse für die Ferien. Dass wir uns damit erholen. Erholen- das kommt von „irhalon“. Und das hieß vor einem Jahrtausend so viel wie: Sich Verliehenes zurückholen und Versäumtes nachholen. „Irhalon“ – „Erholen“, das Wort geht aus von einem Zustand, der nicht in Ordnung ist, wo Mangel herrscht, Zerrissenheit, wo auseinander ist, was zusammengehört. Oder auch: Wo die Dinge eben nicht richtig eingeordnet sind. Nutzen wir alle die Zeit, das zu tun für uns. Ihr Abiturienten, bis es weitergeht mit Studium, Ausbildung oder was immer ihr vorhabt und wir anderen auch. Und mögen wir uns erholt und wohlgeordnet wiedersehen im Dreieck von Kirche, Chor und Schule! Amen.

 

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org