Motettenansprache

  • 20.10.2023
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Motettenansprache am 20.10.2023 St. Thomas zu Leipzig um 18 Uhr – „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“

 

Liebe Motettengemeinde,

„…denn wir wissen nicht, was wir beten sollen…“

 

Angesichts des unmenschlichen und widerwärtigen Terrors fehlen uns die Worte. Bilder vom Überfall der islamischen Terrororganisation Hamas auf friedliche, feiernde Menschen haben sich in unseren Köpfen eingebrannt. Geschändete Körper von Frauen und Männern, auf Geländewagen für eine jubelnde Menge zur Schau gestellt, lassen den Glauben an Menschlichkeit schwinden.

Uns fehlen die Worte, wenn vorschnell Schuldzuweisungen ohne jegliche Faktenprüfung geschehen, nur, weil man als Erster die Meldung bringen möchte.

Mir fehlen die Worte, wenn eine bis dato doch sehr geschätzte Umweltaktivistin sich mit denjenigen sympathisiert, die „from the river to the see“ skandieren. Wer ein freies Palästina vom Jordanfluss bis zum Mittelmeer fordert, fordert die Auslöschung jüdischen Lebens in genau diesem Landstrich. Das Existenzrecht Israels darf nicht in Frage gestellt werden. Und wo das geschieht, haben wir als Christen die Pflicht zum Widerspruch. Insbesondere aus Deutschland, jenem Land, das den Genozid am jüdischen Volk in Gang setzte und vollenden wollte, verbietet sich Kritik an Israel. Die israelische Regierung und ihre Politik mögen Juden in Israel kritisieren und sich mit ihr auseinandersetzen. Wir tun gut daran, zuerst den Balken aus dem eigenen Auge zu ziehen als sich um den Splitter im Auge des Bruders oder der Schwester zu kümmern.

Uns fehlen die Worte, weil in unserem Land, Menschen, denen wir Schutz und Zuflucht gewähren, Arbeit und Auskommen ermöglichen, Antisemitismus offen auf die Straße bringen und somit an alte Ressentiments gegenüber Juden anknüpfen. Ein Jude oder eine Jüdin dürfte eigentlich nie wieder Angst haben müssen in unserem Land. Die Realität sieht leider anders aus.

Und wenn Möchtegernphilosophen alte Stereotype gegen Juden in die Öffentlichkeit tragen, möchte man brechen.

 

„…denn wir wissen nicht, was wir beten sollen…“

Manchmal, liebe Motettengemeinde, überkommt uns eine Sprachlosigkeit angesichts so vieler schrecklicher Ereignisse. Der Apostel Paulus wusste darum. Denn zu seiner Zeit, als er für die Gemeinde in Rom einen Brief schrieb, erging es den Menschen oft ähnlich.

Er möchte sie trösten und ermutigen.

Du brauchst nicht verzweifeln, wo Leid dir den Mund verschließt. Wenn du nicht weißt, was Du beten sollst, dann setze all dein Vertrauen auf deinen Fürsprecher, auf Gottes Geist. Das glaubt der Apostel aus tiefstem Herzen. Derjenige, der sich selbst oft genug als schwach erlebt hat, bezieht aus der Zusage Gottes seine Kraft und Stärke.

Selbst wenn ihr keine Worte mehr findet, schreibt er sinngemäß, reißt die Beziehung zu Gott nicht einfach ab.

 

In Christus geschieht dann das wundersame, so schwer zu verstehende, aber doch zu glaubende Ereignis: Er leidet mit, unschuldig. Darin vollendet sich Gottes Kraft – in genau jener Schwachheit, die von vielen belächelt wird. Der Vater Jesu Christi ist ein Gott der Schwachen, weil er sich ihrer Anliegen annimmt.

Ich teile sie, sagt er durch den Sohn. Zu mir könnt ihr kommen, selbst dann, wenn euch die Worte fehlen.

„der Geist vertritt uns aufs Beste mit unaussprechlichem Seufzen“.

Im Seufzer wird alles aufgenommen. Er reicht schon aus, um Gott auf unser Leid oder unsere Sorge aufmerksam zu machen. Als sein geliebtes Menschenkind brauche ich mir den Kopf nicht darüber zu zerbrechen, ob meine Worte gut genug für Gott sind. Selbst wenn es nur ein Seufzer ist, wie das herzensgrundtiefe „Ach“, genüg dieser Seufzer, um von Gott gehört zu werden.

Vor Sprachlosigkeit sind wir nicht gefeit, liebe Motettengemeinde. Wenn sie uns überkommt, brauchen wir jedoch nicht verzweifeln. Denn seit den Worten des Apostels Paulus bedeutet Sprachlosigkeit nicht automatisch Hilflosigkeit. Für uns steht jemand ein und uns steht jemand zur Seite. Es ist jene Kraft Gottes, die ich im Glauben spüren kann und der ich vertrauen darf.

Das eigene Gebet oder die Fürbitte für andere Menschen behalten trotzdem ihre Bedeutung.

Wir werden dazu ermutigt, um uns gegenseitig zu stärken.

 

Noch einmal, was sollen wir beten?

In einer Erzählung aus der jüdischen Kabbala wird von einem Gelehrten berichtet. Ihm erlaubt Gott, seinen himmlischen Gesprächspartner schon bei Lebzeiten kennen zu lernen. Der reist zu ihm und sucht ihn in seinem Dorf im Lehrhaus, trifft ihn aber nicht dort, sondern in einer bescheidenen Hütte. Er besitzt kein einziges Buch. Fassungslos fragt ihn sein Besucher: "Wie kannst du beten - ohne jedes Buch?"

Er antwortet: "Ich kann nicht lesen, deshalb habe ich kein Buch.

Aber ich kann das Alphabet aufsagen.

Und dann bitte ich Gott, aus meinen Buchstaben Gebete zu machen."

Amen.