Motettenansprache BWV 87 "Bisher habt ihr nichts gebeten"

  • 05.05.2018
  • Pfarrer Hundertmark

Ansprache zur Motette am 5.5.18, Thomaskirche zu Leipzig um 15 Uhr, BWV 87 „Bisher habt ihr nichts gebeten“

Liebe Motettengemeinde,

„Die Lehren von Marx sind allmächtig, weil sie wahr sind.“ – Auf rotem Untergrund prangte dieser Propagandavers an einer Hauswand. Zweimal wöchentlich fuhr ich daran vorbei auf dem Weg zur Musikschule. Schon als junger Teenager stolperte ich über die Logik dieses Satzes. Was haben Allmacht und Wahrheit miteinander zu tun? Bedeutet Wahrheit immer gleichsam auch Allmacht oder ist es nicht vielmehr so, dass Wahrheit an sich noch nicht zwangsläufig etwas mit Macht zu tun hat, geschweige denn mit Allmacht? Denn wer Wahres sagt, wird dafür eher angefeindet statt das ihm Macht angeboten wird. Die Wahrheit einer Lehre bestätigt sich in ihrer praktischen Umsetzung. Daran ist Marx gescheitert. Immer dort, wo seine Lehren versucht wurden umzusetzen, entstand unendlich großes Leid, entstand eine Diktatur mit all ihren Hässlichkeiten und Millionen von Toten – Sowjetunion, China, DDR sind die prominentesten geschichtlichen Beispiele.

Am heutigen 200. Geburtstag des größten Romantikers der deutschen Geschichte wird vielfach in verklärerischer Weise an Karl Marx gedacht. Seine gewisse intellektuelle Strahlkraft fasziniert wohl, blendet dabei aber aus, wie wenig Marx von Ökonomie verstand. Selber chronisch pleite, musste er sich permanent Geld borgen, vielfach von den Menschen, die er in seiner Klassenkampfrhetorik kritisierte. Während jene durch Arbeit, Verantwortung und Eigeninitiative Geld verdienten, lebte Marx auf deren Kosten. Selbst wenn einige seiner Beobachtungen richtig gewesen sein mögen, die daraus folgenden Schlüsse waren es eher nicht. Zudem ignorierte Marx in seiner pauschalen Kapitalismuskritik jene zeitgenössische Unternehmer, denen die soziale Verantwortung für ihre Angestellten ein tiefes Bedürfnis war, wie zum Beispiel Werner von Siemens, Carl Zeiss, Ernst Abbé oder Robert Bosch.

Geschichtlich betrachtet, hat auch Religion viel Leid über die Menschen gebracht, nämlich dann, wenn im Namen von Religion Kriege geführt wurden und Menschen abhängig gemacht wurden anstatt sie aus Freiheit, die durch den Glauben geschenkt wird, ihr Leben gestalten zu lassen. Marx´ Kritik an Religion ist fundamental. Auch hier verkennt er wichtige Elemente christlichen Glaubens und Lebens.

Religion wird von ihm als Opium des Volkes bezeichnet. Opium zerstört den Menschen. Religion baut ihn auf und hilft ihm im Gewirr des Alltags Orientierung zu finden. Sie, liebe Motettengemeinde sind das beste Beispiel dafür. Denn es wäre wohl eine ziemlich absurde Unterstellung, würde man behaupten, dass sie nur in die Thomaskirche kommen, um ihre miserable Alltagssituation mit Religion, die in Musik und Worten zum Ausdruck kommt, zu betäuben. Nein, so ist es nicht. Die Menschen, die hierher kommen, die diesen Ort als Ort des Glaubens, des Geistes und der Musik aufsuchen, brauchen eben kein Opiat, sondern finden hier Stärkung und Vergewisserung für eigenes Tun und eigenen Glauben. Nicht jeder der religiös ist, befindet sich im Elend. Wer aber persönliches Leid zu tragen hat, kann im Glauben Kraft und Hilfe finden, selbiges leichter zu tragen bzw. zu überwinden.

1871 wurde Karl Marx Pate für Karl Liebknecht, der hier in der Thomaskirche die evangelische Taufe empfing. Wenn Religion nutzloses Betäubungsmittel ist, das die Sinne vernebelt, so Marx, wieso blieb er dann Teil dieser Religion und unterstütze sie durch die schriftliche Annahme des Patenamtes als evangelischer Pate? Bei Ideologen ist eben stets Vorsicht geboten, damals und heute, weil sie oftmals heuchlerisch auftreten.

Ein wichtiges Element gelebter Religion ist das innige, von jeder Heuchelei befreite Gebet. Der morgige Sonntag Rogate erinnert uns daran, dass, um es mit Luther zu sagen, „eines Christen Handwerk“ das Beten ist. Die von J. S. Bach komponierte Kantate „Bisher habt ihr nichts gebeten“ nimmt die Thematik des Rogatesonntags auf, indem sie textlich an die Abschiedsreden Jesu im Johannesevangelium anknüpft. Musikalisch vertieft Bach das Thema Gebet zum Beispiel in der Alt-Arie und dem Tenorrezitativ. Der Alt bittet um Vergebung und Geduld. Diese Bitte wird wiederholt, um so die Eindringlichkeit zu zeigen. Wir Menschen sind angewiesen auf Vergebung, weil eigenes Tun und Handeln niemals schuldfrei sind. Damit wir daran nicht zerbrechen, braucht es ein aufrichtiges Bekennen sowie die Vergebung. Durch das Christusgeschehen ist uns die Brücke zu einem Gott der Vergebung gebaut. Wir können neu beginnen, wo Schuld die Seele betrübt oder dem Herzen Kraft und Mut nimmt. Einstehen dafür tut Jesus Christus selbst durch sein Kreuz und seine Auferstehung. Alt-Arie und Tenor-Rezitativ sind beide von den Tönen wie ein aufsteigendes Rauchopfer gestaltet und knüpfen somit an die alttestamentliche Tradition des Gebets an. Im Wort „trösten“ findet dann jedoch eine musikalische Abwärtsbewegung statt und führt zur Basstimme, zur vox christi, die mit dem Zitat aus Johannes 16 „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ den tröstenden Zuspruch gibt.

Weltlicher Alltag kann Angst machen, insbesondere da, wo Erschütterungen alles durcheinanderwirbeln. Christi Trostwort will nicht vertrösten, sondern uns gleichsam an die Hand nehmen. Weltliche Mächte, todbringende Kräfte, Lebensfeindlichkeit – all das wird nicht die Oberhand gewinnen bei demjenigen, der sich Christus anvertraut. Er hat überwunden, was uns ängstigt. Nach dem Schmerz bricht sich sein Trost Bahn wie das von neuem Leben kündende Osterlicht. Die Selbstzusage „fasse dich betrübtes Herz“ in der Tenorarie ist deshalb die Antwort auf Christi Trostzusage. Wo seine Begleitung durch Trauer und Leid elementar erfahren wird, kann auch im Leiden liebende Freude sein. Amen.