Motettenansprache BWV 146 "Wir müssen durch viel Trübsal"

  • 06.05.2017
  • PFarrer Hundertmark

Ansprache zur Motette mit Aufführung der Kantate BWV 146 „Wir müssen durch viel Trübsal“ am 6.5.2017, St. Thomas zu Leipzig

Es regnet in Leipzig. Passend zur Stimmung des Mannes, der seine Schritte in Richtung St. Thomas lenkt. Alles was ihm lieb war hat er verloren. In der Kirche sucht er Ruhe, vielleicht auch ein wenig Trost. Nachdem das Portal durchschritten ist, setzt er sich in die Bankreihe und versinkt in der wunderbaren Musik. Ein neuer Kantor, heißt es in der Stadt, spielt auf unglaubliche Weise die Orgel. Weiche Klänge, die sich mit dynamischen, aufwühlenden Passagen abwechseln, lassen am inneren Auge des Mannes all sein Leid vorüberziehen. Unwillkürlich greift er in die Manteltasche, wo sich stets Zettel und Stift als seine ständigen Wegbegleiter befinden.
"Mit Weinen steh ich auf, mit Weinen leg ich mich zu Bette" sind die ersten Worte auf seinem Zettel.
Als es Abend wird und die Kirche für die Nacht verschlossen werden soll, weckt der Küster den Mann in der Bankreihe aus seinen Gedanken. "Es wird nun Zeit, mein Herr, sie müssen jetzt gehen." Hektisch verlässt der Ermahnte seinen Platz. Er bemerkt gar nicht, wie die beschriebenen Zettel auf den Boden fallen. Am nächsten Morgen, kurz vor der Frühmette, fallen dem Küster die Zettel ins Auge. "Schöne Verse" murmelt er in seinen Bart und legt sie dem Kantor auf die Orgelbank.

Liebe Motettengemeinde,

über die Entstehung des Kantatentextes der heutigen Kantate „Wir müssen durch viel Trübsal“ gibt es reichlich Spekulation. Auf unterschiedlichen Bibelstellen basierend, wird das Thema der sich in Freude verwandelnden Trübsal textlich und musikalisch bearbeitet, ohne dabei zu vergessen, wie beschwerlich dieser Weg ist. Aber genau das macht die Kantate so realistisch. Sie nimmt den Hörer mit auf seinem individuellen Trübsalsweg. Nur so lässt sich auch von der Hoffnung erzählen, die am Ende Kraftquelle ist, um leidvolle Erfahrungen überwinden zu können.

Wenn im 3. Satz der Altarie davon gesungen wird, dass es keinen bleibenden Frieden geben kann in der gegenwärtigen Welt, so spiegeln sich genau darin die individuellen Erfahrungen von Bedrängnis und Not.

Für J. S. Bach waren es beispielsweise die ständigen Querelen mit seinem Arbeitgeber, denen er sich ausgeliefert sah und die er am Ende aber auch bereit war, als Kreuz geduldig zu tragen. Wer so anrührende, ins Herz gehende Musik komponieren kann, dem fällt es vielleicht etwas leichter, sein Kreuz zu tragen, weil jene Musik den Vorgeschmack auf himmlische Freuden hörbar werden lässt. Leid darf dennoch nicht relativiert und gegeneinander ausgespielt werden.

Die Kantate nimmt in ihrer seelsorgerlichen Begleitung Leiderfahrungen ernst. Dadurch öffnet sich eine Tür, durch deren Spalt, ganz zaghaft der Trost huschen kann, um sich dann, wiederum langsam und unaufdringlich, ausbreiten zu können. Vielleicht vermag es mancher, sich im Text des fiktiven Dichters wiederzufinden, wenn die Tränen unaufhörlich fließen, weil überall nur subtile Feindschaft lauert – am Arbeitsplatz, in der Familie; weil Beziehungen kaputt gehen ob zu hoher Ansprüche oder sich einfach keiner finden lässt, mit dem Leben geteilt werden kann.

Solcherlei Trübsal stellt sich neben diejenige, die von unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben erzählt. Das Lied, welches unsere Geschwister im Glauben aus Ägypten, dem Iran, Syrien und in vielen afrikanischen Ländern davon singen könnten, ist wahrlich kein Loblied. Trauer und Wut, Angst um das nackte Leben vermischen sich und machen es der Hoffnung schwer. „Mein Gott, dass fällt mir schwer“ seufzt der die gläubige Seele repräsentierende Sopran im vierten Satz. Vielleicht ist es angemessen, unseren Focus auch auf sie zu richten, ihnen beizustehen und ihr Leid ebenso ernst zu nehmen wie unser eigenes.

Zu den elementaren Glaubenserfahrungen der Jahrhunderte zählt die Erfahrung eines leidwendenden Gottes. Im Psalm 126 lassen sich dafür Worte finden. Dort heißt es: Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen guten Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.

Im fünften Satz wird mit diesem Motiv virtuos gespielt, wenn der Sopran die Tränen, in barocker Sprache sind es die Zähren, sät, begleitet vom Motiv der Flöte, um dann in Freude umzuschwenken als lohnende Ernte, musikalisch in den Worten „Herrlichkeit“ und „seligen“ ausgeschmückt. Leid und Trübsal, Bedrängnis und Kummer sind und bleiben zeitlich, niemals ewiglich. Das gibt Kraft zum Durchhalten. Damit soll nicht billig vertröstet werden, sondern der Leidende darf sich eingereiht wissen in die Menge derer, die ihre Erfahrungen mit ihm teilen. Weil wir einen an unserer Seite wissen, der sich nicht scheute, auch die tiefsten Abgründe menschlicher Grausamkeit zu durchschreiten, ist er uns zum Hoffnungssymbol geworden. Unsere Geschichte mit Gott endet nicht am Karfreitagskreuz, sondern im Sonnenglanz des Ostermorgens, der von Auferstehung, Hoffnung und Freude kündet. Im Duett des siebten Satzes bricht solche Freude sich Bahn und nimmt den Kerngedanken des Evangeliums aus Johannes 16 auf.

„Wenn alle vergängliche Trübsal vorbei!

Da glänz ich wie Sterne und leuchte wie Sonne“.

Öffnen wir unsere Herzen und Sinne, damit diese Freude Einzug halten kann und uns Kraft gibt, nicht allein in himmlisch-musikalischer Verzückung zu verharren, sondern als Zeugen des Evangeliums hinauszugehen, um selber Leid zu wenden mit den Mitteln, die uns Gott anvertraut hat. Amen.

Pfarrer Martin Hundertmark (hundertmark@thomaskirche.org)