Motettenansprache BWV 102 "Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben"
- 19.08.2017
- Pfarrer Hundertmark
Motettenansprache am 19.08.2017, St. Thomas zu Leipzig um 15 Uhr, BWV 102 „Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben“
Liebe Motettengemeinde,
aus 34 verschiedenen Nationen kommen die vierzehn Toten und einhundert Verletzten des Anschlags in Barcelona vom Donnerstag. Die auf den ersten Blick nüchternen Zahlen drücken aber viel mehr aus als Statistik. Sie zeigen uns das Lebensgefühl dieser quirligen und jungen, dieser weltoffenen und beliebten Metropole in Katalonien. Einladend will man dort sein und jeder ist willkommen, sich an Kultur oder Architektur zu erfreuen und unbeschwert miteinander zu feiern. Vor knapp vier Monaten spazierte ich mit zwei Freunden über die Ramblas. Wir haben uns anstecken lassen von der Lebensfreude, vom Tanzen und Musizieren trotz Krise, weil die Menschen dort das Leben als Geschenk begreifen und es ihnen viel zu kostbar ist, als dass man es mit trübsinnigen Gedanken und Gejammer verbringt. Dass mitten in die Lebensfreude der Tod hereinbricht, darüber herrschen in Barcelona jetzt Trauer und Wut.
„Mitten wir im Leben sind, mit dem Tod umfangen“ heißt es in der ersten vorreformatorischen Strophe des von Felix Mendelssohn Bartholdy vertonten Lutherchorals.
Woher kommt Hilfe in solcher Notzeit, fragt nicht nur Martin Luther, der selbige mit all ihren verheerenden Schrecken sehr wohl kannte? Was tröstet, wenn Menschen inmitten der Ferien von verblendeten Gotteskriegern niedergemetzelt werden? Vertrauen auf Jesus Christus, der uns in den Abgründen menschlicher Existenz treu und bergend zur Seite steht – könnte eine, könnte die Antwort sein. Für Martin Luther war sie es. Somit wurden seine Lieder und Texte für Generationen zu Trostworten bis in die Gegenwart und F. M. Bartholdys Komposition verschaffte ihnen verstärkte Ausdruckskraft.
Die Hinwendung zu Gott erfordert eine lebendige Herzensbewegung. Davon erzählt die Kantate für den 10. Sonntag nach Trinitatis von J. S. Bach „Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben“. Den alttestamentlichen Weheruf des Propheten Jeremia aufgreifend, führen uns Chor und Orchester im ersten Satz die volle Kraft dieser Worte vor, wenn gesungen wird „Sie haben ein härter Angesicht denn ein Fels und wollen sich nicht bekehren“.
In der Kantate wird dieses Verstocktsein ausschließlich als ein individuelles Moment verstanden und nicht als ein kollektives. Das bedeutet, du Menschenkind und Menschenseele bist gefordert, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Du, Menschenseele, kannst die Richtung bestimmen, in die du rennen willst – hin zu dem, der dir Zuwendung, Barmherzigkeit und dadurch Trost schenken will oder weg von ihm, weil du eigenem Sinn und eigener Kraft allein alles zutraust.
Wenn die Reformatoren davon sprachen, dass billige Gnade nicht das Zentrum lutherischer Theologie ist, so bedeutet das ein Umkehren unserer Sinne und volle Verantwortlichkeit für unser Tun. Jesus Christus verwendet dafür das Wort „Buße“. Heute würden wir vielleicht eher „Sinneswandel“ dazu sagen. Gott lädt uns ein, die Sinne zu wandeln, tagtäglich. Nur tun müssen wir es schon selber.
Buße so verstanden heißt, zu überdenken, wo wir uns von Gottes Weisungen und den aus ihr resultierenden Werten entfernen, wo Eigensinn und Egoismus stärker wiegen als die Liebe zum Leben in Verantwortung für den Nächsten. Der Schlusschoral von Johann Heermann ermutigt, die angebotene Freundschaft mit Jesus Christus nicht aufs Spiel zu setzen. Der Mensch soll bestärkt werden, seine Beziehung zu Gott ins Reine zu bringen, sein Angebot der Umkehr ernst- und vor allem anzunehmen. Wir dürfen der Gnade Gottes vertrauen, die gespeist wird aus seiner unerschöpflichen Liebe und sich uns zeigt in seinem Sohn Jesus Christus. Deshalb ist das hinwendende Gebet zu ihm „Hilf, o Jesu, hilf du mir“, dass ich dich nicht aus den Augen verliere tägliche Übung.
Ursachen und Gründe, Schuld und Verantwortungsfragen werden nach dem Attentat in Barcelona in den nächsten Wochen die Tagesmeldungen füllen. Vorschnell zu urteilen, davor mögen wir bewahrt werden. Was sich aber in der Geschichte der Gläubigen mit ihrem Gott stets gezeigt hat ist dies:
Immer da, wo wir Menschen meinten, in Gottes Namen Krieg zu führen gegen andere, haben wir uns von ihm unendlich weit entfernt. Dieser Gedanke besitzt Gültigkeit über alle Religionsgrenzen hinweg. Wo wir uns aber von Gott unendlich weit entfernen, herrschen die todbringenden Kräfte. Ihnen zu widerstehen, dazu möge uns Gott stärken in aller Trauer und in Verbundenheit mit allen Nationen, die in Frieden und Fröhlichkeit miteinander Leben teilen wollen.
Eine junge Frau aus Barcelona schaut trotzig in die Fernsehkamera und spricht. „Wir wollen keine Straßensperren. Wir wollen frei und fröhlich leben“. Danach weint sie. Mögen ihre Tränen nicht das letzte Wort haben. Amen.
Gebet
Terror und Krieg bestimmen die Nachrichten, lassen uns erschrecken. Der Mut sinkt, Vertrauen in das Leben schwindet. Angst breitet sich aus. Wir bitten dich: Du ewiger Gott, · lass uns nicht versinken · in des bittern Todes Not! · Kyrie eleison!
Dort, wo wir uns von dir entfernen, verursachen unsere Fehler Schmerzen, die wie ein höllisches Feuer brennen. Wir drohen daran zu zerbrechen. Deshalb bitten wir dich: Du ewiger Gott, · lass uns nicht verzagen · vor der tiefen Höllen Glut! · Kyrie eleison!
Herr, stärke uns, damit wir Dir mehr vertrauen als uns selbst. Hilf uns, den Glauben an deine Liebe zu festigen. Wir bitten dich: Du ewiger Gott, · lass uns nicht entfallen · von des rechten Glaubens Trost. · Kyrie eleison!