Motettenansprache
- 24.02.2023
- Pfarrer Martin Hundertmark
Motettenansprache am 24. Februar 2023, St. Thomas zu Leipzig um 18 Uhr – 1. Jahrestag Ukrainekrieg
Liebe Motettengemeinde,
ein Jahr Krieg in der Ukraine. Ein Jahr voller Leid und Verzweiflung, voller roher Gewalt und Diskussionen, wie mit dem Unvorstellbaren umgegangen werden soll. In diesem einem Jahr haben wir viel gelernt und haben bittere Erfahrungen machen müssen. Erfahrungen, dass Denk- und Lebensentwürfe so nicht mehr funktionieren, wenn sich ein Partner als unzuverlässig und gewaltbereit erweist. Wir haben auch erfahren, dass ein schönes, bequemes und preiswertes Leben von einem Tag auf den anderen zu Ende sein kann.
Und wir mussten die Erfahrung machen, dass unsere eigenen Probleme im Angesicht eines tausendfachen Todes und millionenfacher Vertreibung sich doch schnell relativieren.
Kriege haben nichts Positives. Sie zerstören Beziehungen und zerstören Lebensmöglichkeiten.
Deshalb, liebe Motettengemeinde, muss der Krieg in der Ukraine beendet werden. Darin sind sich auch alle einig. Einen erfolgreichen Weg zum Frieden kann noch niemand aufzeigen. Ausschließlich auf Waffen zu setzen wird keinen nachhaltigen Erfolg bringen und das Ukrainische Volk sich selbst zu überlassen grenzt an unerträglichen Zynismus.
Nach einem Jahr Krieg in der Ukraine haben wir auch lernen müssen, dass sich Ideologien in Luft auflösen können und Friedensethik neu definiert werden muss.
„Frieden schaffen ohne Waffen“ ist ein kluger Spruch, der in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts für Abrüstung und Stabilität gesorgt hat. Heute, wenn es um die Beendigung eines schrecklichen Angriffskrieges geht, taugt er nicht mehr als einzige Lebensleitmaxime. Daran ändern auch populistische Manifeste für den Frieden nichts.
Verhandlungen machen Sinn und zwar dann, wenn es zwei zu Verhandlungen bereite Seite gibt. Mit jemanden, der nicht verhandeln möchte, sondern weiter Raketen und Bomben schickt und in widerlicher Weise seine Mitbürger als Kriegsmasse in den Tod führt, lässt sich kein Frieden machen – auch diese Erkenntnis ist bitter.
„Es gibt keine einfache Lösung, um den Krieg zu beenden. Er kann mit dem Sieg einer der beiden Parteien enden. In diesem Fall hoffe ich auf einen Sieg der Ukraine. Oder mit einem Waffenstillstand. Dann aber steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein neuer Krieg ausbricht. Um zu überleben, braucht es ein Recht auf Selbstverteidigung. Wir sind weiterhin auf die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft angewiesen – ja, auch durch Waffen. Erst damit können wir uns verteidigen.“
Diese Zeilen schreibt der Bischof aus der Deutschen Ev.-luth. Kirche in der Ukraine, Pavlo Shvartz aus der Stadt Charkiw zum Jahrestag des Kriegsbeginns.
Es mögen vielen die Ohren klingen und es mag sich nicht gut anfühlen, wenn man so mit der Realität konfrontiert wird.
Gerne wird argumentiert, dass, wer das Recht auf Selbstverteidigung achtet und sich für Waffenlieferungen einsetzt, sich fragen muss, ob er selbst in den Krieg ziehen würde. Diese Frage stellt sich natürlich nicht. Denn sie hat nichts mit dem Recht auf Selbstverteidigung zu tun. Wenn sich ein Volk nicht versklaven lassen möchte und deshalb um Unterstützung bittet, dann stellt sich einzig und allein die Frage, ob ich meinem Nächsten helfen will oder ob ich ihn sich selbst überlasse. Christliche Friedensethik angesichts eines verbrecherischen Angriffskrieges kann auch bedeuten, unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem angegriffenen Volk Waffen zu liefern, wenn, und das mag paradox klingen, dadurch der Weg zu Verhandlungen mit dem Ziel eines nachhaltigen Friedens möglich ist. „Selig sind, die Frieden schaffen.“
Jesus, liebe Motettengemeinde, hat Gewaltlosigkeit gelebt und ist dafür gestorben. Man kann sein eigenes Leben daran ausrichten und diesbezüglich Jesus folgen. Wo aber Gewaltlosigkeit aus der bequemen Position des eigenen Sofas heraus von denen eingefordert wird, deren Frauen vergewaltigt werden, deren Kinder auf dem Weg zu Schule umkommen oder die auf der Flucht vor dem Krieg erschossen werden oder die schlicht ihre Freiheit behalten möchten, bleibt nur eins festzuhalten:
Diesem Zynismus sollten wir nicht erliegen.
Denn auch dies zählt zu den Erfahrungen nach einem Jahr Krieg. Es ist viel bequemer, mit dem Mechanismus der Täter-Opfer-Umkehr durchs eigene Gedankengebäude zu spazieren, als selbiges zu hinterfragen.
Bischof Pavlo Shvartz schreibt in seinem Brief weiter:
„Menschen, die uns Ukrainerinnen und Ukrainern das Recht absprechen, uns selbst zu verteidigen, verstehen wahrscheinlich nicht die Konsequenzen – anhaltende Besatzung, Versklavung, Folter, Gewalt und der Einsatz von Gefangenen für weitere Kriege durch Russland. Für einen naiven Pazifisten ist es vielleicht bequem, weit weg vom Krieg in einem Land mit einer starken Armee zu leben.“
Es gibt keine einfachen Lösungen, liebe Motettengemeinde, sondern nur Erfahrungen, aus denen wir lernen müssen, um richtige Entscheidungen zu treffen, die dem Leben dienen.
Eine dieser Erfahrungen aus einem Jahr Krieg ist die große Hilfsbereitschaft in unserer Stadt und in unserem Land. Von diesem Weg dürfen wir uns bei allen Konsequenzen für den eigenen Wohlstand nicht abbringen lassen. Gebete für den Frieden, Hand in Hand mit tatkräftiger Nächstenliebe vor Ort, sind Werkzeuge eines jeden Christen.
Was nicht passieren darf ist, müde zu werden und uns auseinandertreiben zu lassen. Denn darauf setzen Diktatoren immer wieder gerne. Dem Bösen zu widerstehen, darum bitten wir in jedem Vaterunser-Gebet. Möge uns Gottes Liebe dazu stärken und sein Geist auf den Weg führen, der zum Frieden führt. Amen.
Gebet
Barmherziger Vater im Himmel,
-wir klagen dir heute die Toten des schrecklichen russischen Angriffskrieges. Mütter weinen um ihre Kinder, Frauen trauern um ihre Männer, Kinder suchen verzweifelt nach ihren verloren gegangenen Eltern.
Das Leid, das uns begegnet, erschüttert. Und doch können wir uns keine Vorstellungen machen, wie es vor Ort wirklich aussieht, weil wir in Sicherheit, in Wärme und gut genährt leben.
-wir klagen dir unsere Gedanken, die gerne die Schuld bei den Opfern suchen.
-wir klagen dir unser Unvermögen, zu helfen, wo wir helfen können, es aber aus Bequemlichkeit und gut zurechtgelegten Ausflüchten nicht tun.
Verwandle unsere Klage.
Schenke uns Mut und Kraft, deiner Verheißung zu vertrauen und unser Leben danach auszurichten.
Wir rufen zu Dir mit den Worten Jesu Christi: