Motettenansprache "Allein zu dir, Herr Jesu Christ" BWV 33
- 26.08.2018 , 13. Sonntag nach Trinitatis
- Pfarrer Hundertmark
Motettenansprache zu BWV 33 „Allein zu dir, Herr Jesu Christ“ am 25.8.2018, St. Thomas zu Leipzig um 18 Uhr
Grenzüberschreitungen sind nötig, um dem eigenen Leben neue Impulse zu geben. Eindrücke von Reisen, die mancher von Ihnen, liebe Motettengemeinde, in den Sommermonaten unternahm bzw. gerade unternimmt, weiten unseren Horizont, weil wir uns Ungewohntem begegnen. Grenzüberschreitungen braucht es auch gelegentlich dort, wo Gefahren lebensbedrohlich auf andere Menschen wirken. Das Evangelium vom Barmherzigen Samariter erzählt uns von Grenzüberschreitungen, die sich anhand einer Frage festmachen lassen:
Wer ist mein Nächster?
In der kleinen Auseinandersetzung zwischen Jesus und dem Pharisäer nutzt Letzterer sie als Rechtfertigungsversuch. Schon diese Fragestellung, liebe Motettengemeinde, ist vom Grundansatz schlichtweg falsch. Offenbart sie doch ein Verständnis von Hilfe, das den Hilfsbedürftigen immer nur als Objekt betrachtet. Letztlicht führt solche Betrachtung nur dazu, den eigenen Altruismus zu nähren, damit es mir selber gut bzw. besser geht.
Jesus kehrt die Frage um in eine rhetorische Frage, die sich aus dem Verlauf des erzählten Gleichnisses wie von selbst beantwortet. „Wer… ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war“? Damit macht er gleichzeitig deutlich:
Wer sich darauf einlässt, anderen –die Rede im Gleichnis ist von irgendein Mensch, der auf dem Weg war und unter die Räuber fiel- zum Nächsten zu werden, der wird denjenigen, der ihn braucht überall finden. Somit ist der Ort geübter und angewandter Nächstenliebe völlig irrelevant. Relevant ist vielmehr der genaue Blick für das, was im Moment richtig ist.
Dafür steht im Gleichnis symbolisch der Samariter. Als Fremder hatte er nichts gemeinsam mit dem Überfallenen. Religiöse Grenzen trennten ihn. Jedoch im Moment der Not, ist eins notwendig, um selbige zu wenden – praktische Nächstenliebe, die es wagt, alles, was ihr entgegensteht zu ignorieren.
Oft genug sind wir Priester oder Levit, die in ihren Gesetzen, Vorschriften und Ausführungsbestimmungen gefangen sind. Das ist durchaus bequem, weil man sagen kann: „Ich würde ja gerne, aber leider geht es jetzt nicht, weil dies oder jenes es mir verbietet.“ Gewiss brauchen wir ordnende Leitplanken, damit nicht alles im Chaos versinkt, persönlich wie auch gesellschaftlich. Gesetze und Vorschriften sind aber nur so lange nützlich, wie sie den Menschen und damit dem Leben dienen. Wo das nicht mehr der Fall ist, darf, nein muss, ihre Sinnhaftigkeit infrage gestellt werden. Weil uns das schwerfällt, aus Bequemlichkeit oder mangelndem Mut, fallen wir selber tagtäglich unter die Räuber. Sie rauben uns das, wozu wir eigentlich berufen sind – ganz Mensch zu sein und danach zu handeln. Damit wir nicht zugrunde gehen, braucht es den barmherzigen Samariter Jesus Christus. In der Alt-Arie der gleich zu Gehör kommenden Kantate heißt es: „Wie furchtsam wankten meine Schritte, doch Jesus hört auf meine Bitte und zeigt mich seinem Vater an.
Mich drückten Sündenlasten nieder, doch hilft mir Jesu Trostwort wieder, dass er für mich genung getan.“
Wann immer ich zum vorbeieilenden Priester oder Leviten werde und somit Gottesferne als schwere Last auf mich lade, möge ich den einzigen und wahren Beistand zur Seite haben – Jesus Christus. Das reformatorische „solus christus“ immer vor Augen, lässt Bach im ersten Satz der Kantate die Anfangsworte und Melodie allein vom Sopran singen. Die anderen Stimmen folgen und imitieren, indem sie ebenfalls allein einsetzen.
Das gleichseitige Dreieck der Liebe
Im Gleichnis kommen drei unterschiedliche, Möglichkeiten der Liebe zur Sprache. Gottesliebe, Eigenliebe und Nächstenliebe stehen wie in einem gleichseitigen Dreieck gleichberechtigt und aufeinander angewiesen. Würde eine Seite stärker betont werden als die anderen beiden, verschöbe sich alles und die Symmetrie wäre dahin. Dort wo die Beziehung zu Gott, garniert durch Fasten und verordneter Enthaltsamkeit, nur dem eigenen Wohlbefinden dienen soll, gerät sie auf eine völlig schiefe Bahn.
Gottesliebe alleine ist vollkommen nutzlos, verwirklicht sie sich nicht im Nächsten. Sie will gelebt werden. Eine liebevolle Beziehung zu Gott beruht zuallererst auf dem Geschenk seiner Zuwendung. Dabei ist Gnade mehr als ein Wort. Sie ist das Sicheinlassen auf die Überraschungen Gottes, der mir Aufgaben auf meinen Lebensweg zukommen lässt. Diese Aufgaben befreien mich dann von festgefahrenen Maßstäben und geben mir die Chance, willkürlich gesetzte Grenzen zu überwinden.
Solche Befreiung entbindet mich vom Leistungsgedanken in Bezug auf Gott – weil eben alles geschenkt ist.
Im vierten Satz der Kantate „Allein zu Dir, Herr Jesu Christ“ singt die Tenorstimme „gib mir nur aus Barmherzigkeit den wahren Christenglauben! So stellt er sich mit guten Früchten ein und wird durch Liebe tätig sein“ und hebt damit jenen Gedanken der geschenkten Barmherzigkeit hervor.
Nun sind die Voraussetzungen geschaffen, dass ich mich als Mensch auch selber annehmen und lieben kann. Denn weil Gott dies tut, darf ich es umso mehr tun, natürlich nur im symmetrischen Maß des gleichseitigen Dreiecks der Liebe. Von Gott geliebt, werde ich frei zur Menschlichkeit. Es tut uns gut, sich dessen zu erinnern.
Wo ich frei zu Menschlichkeit bin, bin ich auch frei für die Liebe zu anderen und erfahre dadurch gleichsam eine Befreiung zu sinnvollem Leben.
„So geh hin und tu desgleichen“ schließt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Lasst uns die Grenzüberschreitungen zum sinnvollen Leben wagen! Amen.
Gebet
Guter Gott, Vater im Himmel, wir danken Dir für die Freiheit, die Du uns schenkst. Wir bitten dich um Kraft und Mut, dass wir uns einlassen können auf die Menschen, die du uns auf unseren Lebensweg stellst. Schütze uns vor Überforderung und rufe uns aus Bequemlichkeit durch Jesus Christus, in dessen Namen wir zu Dir beten: Vater unser...