Motettenansprache

  • 01.11.2024
  • Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle

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Liebe Gemeinde,

mit den kürzer werdenden Tagen und der melancholischen Herbststimmung neigt sich auch das Kirchenjahr so langsam seinem Ende entgegen. Die Texte, die in den Gottesdiensten gelesen und die Lieder, die gesungen werden, haben eine gewisse Schwere und Nachdenklichkeit. Es ist die Zeit, in der man über das Ende der Dinge nachdenkt, über die eigene Endlichkeit und über diejenigen, die nicht mehr da sind. 
Auch die Musik, die die Thomaner heute zum Klingen bringen, hat diesen nachdenklichen Ton. Gerade haben wir von Johannes Brahms die Motette „Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen?“ gehört. Diese Motette ist sozusagen ein Nachklang auf Brahms‘ „Deutsches Requiem“, das zehn Jahre früher entstanden war. Und sie haben es gehört, es geht um dieses Wort „Warum?“, das Brahms auf eindringliche, fast bedrohliche Weise wie mit Hammerschlägen in Töne meißelt. Dabei greift er auf Texte der Bibel zurück, die genau diese Frage stellen. Warum lässt Gott das eigentlich zu, warum ist die Welt so gemacht, dass wir für eine kurze Zeit das Licht der Sonne sehen, bevor wir in die Nacht zurückkehren müssen, aus der wir gekommen sind? Und warum hat Gott uns so gemacht, dass wir um unsere Endlichkeit wissen müssen?  
Die Bibel kann so weit gehen, sehr ernsthaft zu erwägen, ob das nicht ein unsensibler, gar rücksichtsloser Gott war, der uns nur das Leben sehen lässt, dass wir eines Tages verlieren werden. Aber vielleicht ist dieses „Warum?“ heute schon gar keine Frage mehr. Wir leben ja, so sagt man jedenfalls, in einem säkularen Zeitalter, das sich von Gott verabschiedet hat. Der moderne Mensch ist er-wachsen geworden und dem Glauben an einen himmlischen Vater ent-wachsen. Es schadet vielleicht nicht, aber es bringt auch nichts, an Gott zu glauben. Dieser Glaube mag, wie manches Erkältungsmedikament, ein paar Symptome lindern, aber er kuriert nicht die Ursache eines endlichen, manchmal glücklichen und oft leidvollen Lebens. Nein, es muss ohne Gott gehen, und es kann ohne Gott gehen. Alles andere wäre Augenwischerei. So sieht es der mündige, aufgeklärte, aus seinem Kinderglauben erwachte Mensch. 
Beim Bücherstöbern neulich fand ich einen Band, der sogar von einem Theologen geschrieben wurde und der den Titel trägt: „Wenn nichts fehlt, wenn Gott fehlt“. Ja, auch die Kirchen und die Theologie tun sich schwer damit, dass wir in Zeiten leben, die nicht – oder: nicht mehr – nach Gott rufen. Viele Menschen gehen zur Kirche, weil sie sozialen Anschluss suchen, weil es gute Musik gibt, oder weil man mal Zeit und Ruhe zum Nachdenken hat, während da oben auf der Kanzel einer was erzählt.
Die Texte und die Musik, die hier heute zu hören sind, gehen einen anderen Weg und werfen eine viel verstörendere Frage auf: Was, wenn nicht wir Gott hinter uns gelassen haben, sondern wenn, umgekehrt, Gott uns hinter sich gelassen hat? Was, wenn wir auf der Schattenseite Gottes existieren, wo genau die Übel gedeihen können, die diese Welt beständig plagen – Pandemien, die Spirale der Kriegsgewalt, aber auch die Schläge des Lebens, die jeden irgendwann einmal treffen? 
Aber nein, hört man sich da einwerfen, Gott ist doch der, der immer da ist, der gar nicht anders kann als mich zu lieben und mir gnädig zu sein. So, liebe Gemeinde, denkt die Bibel allerdings nicht. Ein berühmter Theologe des vergangenen Jahrhunderts, Karl Barth, pflegte zu sagen, dass die Wunschvorstellung eines immer und überall lieben Gottes nichts anderes als eine „fromme Unverschämtheit“ sei.
Komponisten wie Brahms und Johann Sebastian Bach haben damit gerungen, dass man an der Frage nach dem „Warum?“ auch als moderner Mensch nicht vorbeikommt. Das ist der Flaschenhals, durch den ein jedes Leben irgendwann einmal hindurchmuss. Und deswegen ist es eine grundehrliche Frage, weil es kein drumherum gibt. Wer nach dem „Warum?“ fragt, will keine parfümierten Antworten, sondern Wahrheiten, auch wenn sie wehtun. 
Immer wieder berührt lese ich in den Tagebuchnotizen Mutter Theresas – eine Friedensnobelpreisträgerin und Heilige der katholischen Kirche. Sie hat die Frage nach dem „Warum?“ gestellt und für sich eine ehrliche Antwort gefunden, die allerdings jeder konventionellen Frömmigkeit widerspricht. ‚Ich lebe auf der Schattenseite Gottes‘, so kann sie von sich sagen. ‚Es ist mir wohl nicht vergönnt, das Licht Gottes zu sehen. Aber ich kann anderen den Weg dorthin zeigen. Ich bin ein Engel der Dunkelheit.‘ Das ist verstörend und doch auch von einer frommen Bescheidenheit, die einen nachdenklich machen kann. 
Schaut man noch einmal auf unser Musikprogramm, dann geht auch dort das Ringen mit der Frage nach dem „Warum?“ weiter und findet eine unerwartete Entgegnung. Auf Brahms „Warum?“ antwortet Bachs „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“. Oder etwas anders gesagt, „Ich lasse dich nicht los, es sei denn du lässt einen Segen zurück.“ Dieser Satz stammt aus einer Erzählung des Alten Testaments. Da begegnen wir dem Ahnvater Jakob auf der Flucht vor seinem Bruder. Und als sich Jakob schon in Sicherheit wähnt, wird er auf einmal von einem Unbekannten angegriffen. Es ist Nacht, er sieht nicht, mit wem er es da zu tun hat, bis es ihm langsam dämmert, dass das wenigstens ein Engel, wenn nicht gar Gott selbst ist. Der Angreifer verwundet Jakob und will ihn zurücklassen. Aber mit letztem Mut hält Jakob sich an ihm fest, hält ihn zurück, und dann kommt der Satz: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“. 
Gott festhalten, wenn er geht. Gott nicht loslassen, wenn er ins Dunkel verschwindet. Was für ein kraftvolles, kühnes Bild! Gott kommt nicht ohne einen Segen davon. Wir mögen Gottes Wege nicht immer verstehen und Gott nicht folgen können; wir mögen auf die Frage nach dem „Warum?“ nicht die letzte Antwort finden, aber die Frage stellen und sie mit Herzblut meinen, heißt Gott einen Segen abringen. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ ist ein Aufbäumen, ein Protest der Seele dagegen, dass Gott geht oder dass wir ihn gehen lassen. Aber gerade deswegen liegt darin etwas zutiefst Kraftvolles. Wer Gott – trotz allem – nicht gehen lässt, wer mit ihm ringt wie Jakob, der hat noch Hoffnung; der greift durch das Dunkel der Welt, um Gott zu fassen. Das braucht es mehr denn je, liebe Gemeinde, in Zeiten, wo das Dunkel dichter wird, wo Kriege nicht aufhören, sondern immer weitere Kreise ziehen, wo Anfeindung und Indifferenz das Fugenmotiv zerfallender Zivilisationen werden. ‚Warum das alles, Gott? Aber was auch immer Du sagst und was auch immer das für mich bedeutet: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.‘ 

Amen.