Motettenansprache

  • 27.04.2024
  • Prof. Andreas Schüle

Ansprache zur Motette am 27.4.2024, St. Thomas

Liebe Gemeinde,

„Wo gehest du hin?“ lautet der Titel der Kantate, die wir gleich hören werden. Johann Sebastian Bach komponierte sie für den morgigen Sonntag es Kirchenjahrs. Die Arie, mit der die Kantate beginnt, besteht nur aus diesen vier Worten „Wo gehest Du hin?“ Diese Frage wird in den Raum gesungen, ohne dass klar ist, wer diese Frage eigentlich stellt und wer auf sie antworten soll. Ist das eine Frage an Sie, an mich – eine Frage, die Auskunft darüber will, wo wir denn eigentlich hin wollen mit unserem Leben? Oder ist das eine Frage, die wir stellen, weil uns so oft nicht klar ist, wohin die Menschen und die Welt um uns herum eigentlich unterwegs sind: Wo gehest Du hin? Was soll das alles? Wohin führt das?

Auf der Suche nach Antworten kommt zunächst das Evangelium für den morgigen Sonntag in den Blick. Wir haben es gerade gehört. Es stammt aus dem 16. Kapitel des Johannesevangeliums und enthält Jesu große Abschiedsrede an seine Jünger. Jesus wird gehen, wir diese Welt verlassen, aber er wird den Seinen einen Tröster senden, bis er wiederkommen wird. Es sind geheimnisvolle Worte von dunkler Vorahnung aber auch von liebevoller Fürsorge. Die Jünger haben, man muss es so sagen, keinen blassen Schimmer von alle dem, was Jesus da sagt, und so trauen sie sich nicht – so heißt es in Joh 16 – ihn das zu fragen, was ihnen im Herzen brennt: „Wo gehest du hin?“

 

Ein Jünger wird diese Frage dann aber doch stellen. Das führt uns zu einer anderen Erzählung, die Bach und sein unbekannter Textdichter mit einiger Sicherheit gekannt haben, weil sie zu seiner Zeit oft in Bildern dargestellt wurde und zu den christlichen Legenden zählte, die man kannte. Es geht um eine Begegnung zwischen Christus und dem Apostelfürsten Petrus. Wir befinden uns in Rom auf der Via Appia, der Hauptstraße, die zur Stadt führte. Es toben die Christenverfolgungen unter Kaiser Nero, dem es gefiel, Christenmenschen in Tierhäute einzunähen und von Hunden zerfleischen zu lassen – oder aber als lebendige Fackeln in seinem Garten zu verbrennen. Petrus befindet sich auf der Flucht – man möchte sagen: wieder einmal. Er war ja schon einmal geflohen, damals als Jesus verhört wurde und die Umstehenden Petrus fragten, ob er nicht auch einer von dessen Jüngern sei: „Ich bin’s nicht!“ hatte er damals gesagt – einmal, zweimal, dreimal. Und dann krähte der Hahn. Petrus flieht also wieder, wo er hätte standhaft bleiben sollen. Und als er die Stadt verlässt, sieht er, wie ihm auf der Via Appia eine Gestalt entgegenkommt, die er erst langsam als Christus, den Auferstandenen, erkennt. Erstaunt und erschrocken bekommt er endlich den Mund auf und stellt die Frage: Quo vadis, domine? „Wohin gehst du, Herr?“ Und Christus antwortet: „Ich gehe nach Rom, um mich ein zweites Mal kreuzigen zu lassen.“ Diese Antwort hat folgen, denn endlich schöpft auch Petrus Mut, nimmt sein Schicksal in die Hand, kehrt um und wird in Rom zum Märtyrer.

Manchmal muss man einen anderen fragen, wohin er geht, damit man den eigenen Weg findet.

Es spricht vieles dafür, dass Bach mit dem Evangelientext auf ingeniöse Weise diese Petruserzählung verbunden hat. Quo vadis, domine – „Wo gehest du hin, Herr?“ Das ist die Frage, die sich die Jünger nicht zu fragen wagten, die aber Petrus letztlich doch stellen wird und die sein ganzes Leben zurechtrückt. Dieses Zusammefließen erklärt die ganze Eindringlichkeit, ja Unruhe der ersten Arie der Kantate: „Wo gehest du hin, wo, wo gehest du hin, wohin, wohin?“  

Bach hat sich sehr mit Petrus beschäftigt, davon zeugen vor allem seine beiden großen Passionen. Petrus ist für ihn der exemplarische Mensch, einer, der so ist wie wir auch – einer, der standhaft, gut und treu sein will und trotzdem einbricht; einer, der das Herz am richtigen Fleck hat und trotzdem nicht den Mut zur Wahrheit findet. In der Matthäuspassion lässt Bach dem Verrat des Petrus, dem dreimaligen „Ich bin’s nicht!“, eine seiner größten Arien folgen: „Erbarme Dich!“ Die Lüge, die aus dem Mund des Petrus kommt, wird in seinem Herzen zur Bitte um Vergebung und Erbarmen. So ist Petrus, so sind wir. Und das hat für Bach etwas Tröstliches. Bis man endlich die Frage stellt „Wohin gehst du, Herr?“ und bereit ist, die Antwort darauf zum Kompass des eigenen Lebens zu machen, vergeht manchmal Zeit, viel Zeit – für Petrus ein halbes Leben.

Und so kommt die Kantate dann auch bei uns an: Wer die Frage stellt „Wo gehst du hin?“, zu dem kommt sie unweigerlich zurück: „Und was ist eigentlich mit Dir? Wohin bist du denn unterwegs? Hast Du einen Plan davon, was du willst, oder treibst du einfach so dahin?“ Für Bach war die Umkehrung der Frage ein existenzielles Anliegen, weil das Leben etwas zu Kostbares ist, um es planlos dahingehen zu lassen. Man kann sich durchmogeln, man kann irgendwie das Beste draus machen; man kann mit den Wölfen heulen oder mitlachen, wenn, in Bachs Worten, „das Gelücke lacht.“ Aber vielleicht ist es dann irgendwann einmal zu spät, die verlorene Zeit wiederzufinden. Denn eins ist gewiss, wie der Schlusschoral einschärft: „Wer weiß, wie nahe mir mein Ende. Hin geht die Zeit, her kommt der Tod. Ach, wie geschwinde und behände kann kommen deine Todesnot.“

Liebe Gemeinde, ich denke, dass Bach irritiert wäre, wenn er in unserer Zeit leben würde – irritiert von der Willigkeit vieler Zeitgenossen, sich den Trivialitäten sozialer Netzwerke hinzugeben – ein Leben von einer App zur andern –, irritiert von der Sucht nach spontaner Bedürfnisbefriedigung und vor allem natürlich davon, dass Menschen kaum noch darüber nachdenken, wo ein Leben ankommt und wie es endet. Der Modezar Karl Lagerfeld hat einmal gesagt „Meine Devise im Leben ist: Es fängt mit mir an und hört mit mir auf.“ Das wäre für Bach und seine Zeitgenossen völlig unverständlich gewesen.

Was uns in der Kantate entgegenklingt, ist dagegen die Aufforderung und die Ermutigung, das Leben nicht im Flachland dahintreiben zu lassen, sondern es in seinen Höhen und Tiefen auszuloten. „Ich will an den Himmel denken und der Welt mein Herz nicht schenken“, so in der Tenorarie. Das hat weniger mit Weltflucht zu tun als mit der Sehnsucht danach, dass mein Leben eine Erfüllung, eine Größe und eine Würde findet, dass sich darin ein Stück Himmel spiegelt. Wir sind für mehr gemacht als wir selbst aus uns machen können. Das ist eine Grundeinsicht des christlichen Glaubens, die Bach immer und immer wieder musikalisch umgesetzt hat. Und weil das so ist, steht die Frage im Raum – die Frage der Jünger, die Frage des Petrus, die schließlich zu einer Frage an uns selbst wird: „Wo gehest du hin?“

Amen.