Motettenansprache

  • 01.06.2024
  • Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle

Motettenansaprache, 31.5./1.6.2024, Thomaskirche zu Leipzig

Prof. Andreas Schüle

 

Liebe Gemeinde,

das Evangelium für diese Woche ist eine eigentümliche Geschichte aus dem Johannesevangelium. Wir hören diese Geschichte heute in gesungener Form vom Ensemble Josquin des Préz und zwar in einer modernen Vertonung, nämlich der von Ernst Pepping. Es geht um eine nächtliche Unterhaltung zwischen Jesus und einem Mann namens Nikodemus.

Die beiden haben sich ein hochtheologisches Thema vorgenommen: Es geht um die Frage von Wiedergeburt und ewigem Leben. Schweres Geschütz also, aber doch eine Frage, die Menschen stellen, wenn sie sich mit Religion befassen. Mir jedenfalls geht es so, dass ich als Theologe und Pfarrer oft und gerade von kirchenfernen Menschen darauf angesprochen werde, wie sich das Christentum das nun eigentlich vorstellt mit einem Leben nach dem Tod.

Dieser Nikodemus gehörte zu einer Gruppe jüdischer Gelehrter, die keine großen Erwartungen an ein solches Leben nach dem Tod hatten. Eher im Gegenteil! Wie sollte man sich das auch vorstellen? Unser ganzes Leben schreit nicht gerade nach Ewigkeit. Alles hat seine Zeit, kommt und vergeht. Das erfahren wir an unserem Körper und wir erfahren es in unseren sozialen Beziehungen. Alles ist auf seine Weise endlich, aber darum hat es auch einen Wert. Endlichkeit macht Dinge kostbar. Nur Gott ist ewig und unendlich. Von dem, was Gott in seiner ganzen Fülle vor sich hat, erleben wir einen kleinen Ausschnitt. Aber das ist ein Geschenk, und dafür gilt es dankbar zu sein. So sahen es viele der jüdischen Gelehrten zur Zeit Jesu. Man kann ein gläubiger Mensch sein, ohne sich auf irgendwelche Spekulationen einzulassen, was nach dem Tod kommt – oder auch nicht kommt.

Jesus war da anderer Meinung. Er spricht von Wiedergeburt. In diesem Leben, jetzt schon, inmitten aller Vergänglichkeit und Endlichkeit werden wir hineingeboren in ein anderes, neues, ewiges Leben. Und wir beginnen das auch zu spüren in der Art und Weise, wie Gottes Geist in uns wirkt. Die Liebe, die wir erleben, die wahre Freude und die Empfindung tiefen Glücks sind Ewigkeitsmomente in diesem vergänglichen Leben – erste Anzeichen und Leuchtfeuer, dass das Leben mehr ist als körperliche Endlichkeit. Für Jesus werden wir nicht nur in eine natürliche Existenz hineingeboren, die wir eines Tages verlassen, sondern auch in eine geistliche, die bleibt.

Als Leserinnen und Leser der Bibel wissen wir natürlich schon, auf wessen Seite in diesem Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus wir sein sollen. Am Ende ist es Jesus, der die tiefere Weisheit hat, auch wenn diese noch dunkel und geheimnisvoll erscheint. Und einen Schubs in diese Richtung gibt uns auch Ernst Pepping. Die Fragen des Nikodemus lässt er ziemlich brav, schulmäßig und auch ein bisschen bemüht klingen, während Jesu Worten alle Souveränität und Kraft gegeben wird: „Wahrlich ich sage euch …“. Das erklingt mit langen, vollen Noten und mit ganzem Chor.

Aber ich denke, dass dieses Gespräch mit Nikodemus am Anfang des Johannesevangeliums steht, weil es die Zweifel und die „dummen“ Fragen zulässt, die man wohl haben muss, wenn es um Leben und Tod geht. Was Nikodemus sagt, ist aufgeklärt und modern. Wie bitte soll man sich das überhaupt vorstellen – Wiedergeburt, neues Leben? Vermutlich ist es auch ein bisschen ironisch gemeint, wenn er sagt, dass man ja schlecht nochmal in den Bauch seiner Mutter zurückklettern und nochmal geboren werden kann. Heute, im Zeitalter der Naturwissenschaften, sieht man das ganz ähnlich: Nüchtern betrachtet gibt es nichts an uns, das man sich ohne einen physischen Körper vorstellen könnte. Jeder Gedanke, den wir denken, ist an chemische und physikalische Prozesse in unserem Gehirn gebunden. Wenn das aufhört, gibt es uns einfach nicht mehr – allenfalls noch in den Erinnerungen anderer Menschen. Nikodemus, einem gläubigen jüdischen Gelehrten würde das einleuchten. Und er würde sagen, dass das okay ist. Leben muss auch gar nicht mehr sein als die Zeit zwischen Wiege und Bahre.

Andererseits, wenn die Sache so klar wäre, wie Nikodemus sie betrachtet, warum treibt uns das Thema dann überhaupt um? Warum denken wir über die Welt hinaus, die wir kennen? Warum fragen wir nach einem Jenseits? Warum spüren wir überhaupt Trauer, warum empfinden wir das Schicksal mancher Menschen als ungerecht, wenn das alles doch nur „normale Endlichkeit“ ist?

Für das Johannesevangelium tun wir das, weil sich unser Dasein gleichzeitig in mehrere Dimensionen erstreckt. Wir sind körperliche, vergängliche Wesen, ja. Aber wir sind auch mehr als nur eine DNA-Sequenz, die sich langsam verschleißt. Wir ahnen und spüren etwas von Ewigkeit in der Qualität unseres Daseins, und wir leiden darunter, wenn das Leben flach und eindimensional wird. Wir haben immer schon einen Fuß in der Tür zu einem anderen Leben, und genau das meint Jesus, wenn er von „Wiedergeburt“ spricht.  

Es wird berichtet, dass das Gespräch zwischen Nikodemus und Jesus nachts stattfand. Ich kann mir gut vorstellen, dass die beiden tatsächlich bis tief in die Nacht hinein diskutiert haben. Manche Gespräche müssen ja nachts geführt werden, wenn die Umtriebigkeit des Tages von einem abfällt; wenn man sich auf Gedanken einlässt, für die das Licht des Tages zu grell ist. Nachtgespräche sind oft die Gespräche, in denen man ehrlicher ist, sich nicht hinter irgendetwas versteckt, sondern sich heraustraut und sagt, was man denkt und was einem denn wirklich wichtig ist.

Nikodemus sucht dieses Nachtgespräch mit Jesus, der ihn offenbar interessiert und wohl auch fasziniert. Manchmal bringen einen ja gerade die Menschen weiter, denen man zwar nicht alles glaubt, die einen aber dennoch auf eine neue Denkspur setzen.

Mit diesem Nikodemus bekommen jedenfalls auch unsere Fragen und Zweifel einen Ort in der Geschichte dieses Jesus von Nazareth. Wenn man das Johannesevangelium liest, dann ist das fast so, als würde man bei Nikodemus auf dem Rücksitz mitfahren und sehen und hören, was dieser Jesus sagt und was das mit einem selbst macht. Glaube ist keine spontane Gewissheit. Glaube braucht Zeit. Aber Glaube ist Widerstand gegen alles, was das Leben klein und beliebig macht, was dem Dasein seine Höhe und Tiefe und die Signatur der Ewigkeit abspricht.

Wir wissen nicht, was Nikodemus am Ende geglaubt oder auch nicht geglaubt hat. Aber er ist an diesem Jesus von Nazareth drangeblieben, so als hätte ihn der Gedanke von Wiedergeburt und ewigem Leben doch nicht losgelassen. Und so ist es keine Überraschung, dass Nikodemus noch ein zweites Mal im Johannesevangelium auftaucht, und zwar ganz am Ende. Nach der Kreuzigung kommt er zum Grab Jesu und bringt eine immense Summe teuren Salböls mit. Bedeutet das vielleicht, dass Nikodemus – einer, der rational und nüchtern an die Dinge heranging – doch etwas von der Ahnung an sich heranließ, dass da mehr sein könnte als eben nur ein Grab?

Und mit Nikodemus kommen diese Fragen zu uns zurück. Was lasse ich in meinem Dasein zu? Nur das endliche Leben zwischen zwei Punkten, Anfang und Ende? Oder das mehrdimensionale, leibliche und geistliche Leben, das wächst und Gestalt annimmt über die Welt hinaus, die wir kennen? Das ist, liebe Gemeinde, nicht nur eine Frage nach dem Jenseits, sondern auch nach dem, was jetzt schon zählt, was wert und wichtig ist. Wohin soll sich mein Dasein erstreckt, welche Richtung soll es nehmen? Wer dem Jenseits etwas zutraut, investiert Hoffnung in die Gegenwart. Das ist eine Wahrheit des Johannesevangeliums, die es in einer oft geschäftsmäßig wirkenden Kirche und in einer Zeit zu entdecken gilt, die so sehr mit sich selbst beschäftigt ist wie die unsere.

 

Amen.