Motettenansprache
- 14.09.2019
- Pfarrer i. R. Christian Wolff
Liebe Gemeinde,
mit einer uns heute fremd anmutenden Frage eines rechtschaffenen und frommen Menschen beginnt das Gespräch, das der Gleichniserzählung vom barmherzigen Samariter vorangestellt ist:
Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?
Mit dieser Frage will der Mann sich darüber Gewissheit verschaffen, was im Leben wichtig ist, worauf es ankommt.
Und worauf kommt es an? Heute, im Jahr 2019? Was müssen wir da tun - auch im Blick darauf, wie wir unser Leben vor den nächsten Generationen und schließlich vor Gott verantworten können? Leider können wir auf die Frage des frommen Mannes nicht mehr so unbefangen mit einer Gegenfrage reagieren, wie es Jesus noch vermochte:
Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?
Wir leben heute in einer weltanschaulich und religiös vielfältigen Gesellschaft, die ihren Wertecodex nicht so eindeutig zurückzuführen vermag auf das Fundament der Bibel. Wir spüren, wie die Skala der Wertigkeit des Lebens auseinanderdriftet. Eine Untersuchung des Allensbach-Institutes offenbart, dass vor allem die „Generation Mitte“, die 30-60-Jährigen, über zunehmende Aggressivität, Egoismus und Rücksichtslosigkeit klagt, die den Zusammenhalt bedrohen würden. Offensichtlich sind uns die Anknüpfungspunkte abhandengekommen, wenn Nächstenliebe zunehmend als „Gutmenschentum“ verhöhnt wird.
Doch gerade weil nicht wenige Menschen ihre Schwierigkeiten mit einem ethischen Kompass haben, ist es ein Segen, dass wir uns auf die Werte der jüdisch-christlichen Glaubenstradition berufen können. Wir sollten jedenfalls bedenken: Nicht nur die vielen, verheerenden Versuche in den vergangenen zwei Jahrhunderten, uns von moralischen Prinzipien zu lösen, mussten mit einem hohen Preis an Blutzoll bezahlt werden. Auch die blindwütige Hetze im Netz gegen bestimmte Menschengruppen und der Versuch der Rechtsnationalisten, die Nächstenliebe völkisch zu verengen, zerstört Grundwerte und legt die Axt an unsere Glaubensgrundlagen.
Jesus und der Mann wussten, wo sie ihren Konsens finden können: im Glauben an den einen Gott. So kann der Mann auf die Gegenfrage Jesu
Was liest du?
mit einem Zitat aus dem hebräischen Teil unserer Bibel antworten:
Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte (Verstand) und deinen Nächsten wie dich selbst.
Johann Sebastian Bach entfaltet dieses Doppelgebot der Liebe im Eingangschor der Kantate als Grundlage des Glaubens. Damit greift er die Aussage Jesu auf, wonach im Doppelgebot der Liebe das ganze Gesetz und die Propheten zusammengefasst sind. Darum überlagert Bach den Eingangschor mit der Melodie des Luther-Liedes „Dies sind die heilgen zehn Gebot“ und lässt zwischen der Trompetenstimme und dem Continuobass sich einen groß angelegten Kanon entwickeln. Dadurch soll das Umfassende des Doppelgebotes dargestellt werden. Zusätzlich lässt er die Trompete zehn Mal einsetzen. Das kann als Hinweis auf die Zehnzahl der Gebote gedeutet werden. Schließlich gliedern sich die dem Eingangschor folgenden Teile der Kantate so: Das erste Rezitativ-Arie-Paar ist der Gottesliebe, das zweite der Nächstenliebe zugeordnet.
Strittig ist eigentlich nichts zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten:
So muss es sein!
lässt Bach die Bassstimme auf den Eingangschor antworten. Bachs Kantate strahlt die Übereinstimmung aus, die zwischen Jesus und dem fragenden Mann besteht. Als Problem bleibt das übrig, was in der Alt-Arie zum Ausdruck gebracht wird:
Ach, es bleibt in meiner Liebe
lauter Unvollkommenheit.
Hab ich oftmals gleich den Willen,
was Gott saget zu erfüllen,
fehlt mir's doch an Möglichkeit.
Diese Unvollkommenheit wird uns nicht nur im 137. Psalm drastisch vor Augen geführt. Wir haben ihn in der Vertonung von Kurt Thomas gehört. Da lässt der Beter seinen Hassgefühlen freien Lauf, die Gott von jeder Art der Vergebung abhalten und zur Vergeltung veranlassen sollen. Für Nächstenliebe und Vergebung scheint angesichts der im Psalm benannten Verbrechen kein Platz mehr zu sein.
Von Unvollkommenheit handelt auch das bekannte Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das Jesus zur Illustration des Doppelgebotes erzählt. Dieses verharrt aber nicht in der ausweglosen Spirale „wie du mir, so ich dir“. Die tätige Nächstenliebe wird durch den unter die Räuber gefallenen Mann herausgefordert. Doch weder der vorbeikommende Priester noch der Levit werden der Herausforderung gerecht. Sie unterbrechen ihren Weg nicht, um zu helfen – vielleicht weil ihnen die Menschen, zu denen sie eilen, viel näher sind als der nahe Fremde. Erst der als gottlos geltende Samariter nimmt sich des übel zugerichteten Mannes an. Er begreift, worauf es wirklich ankommt: auf die tätige Liebe, durch die Gott uns mit dem Leben des unbekannten Nächsten, seiner Not, seinen Ängsten verbindet, ohne uns damit zu überfordern.
Als ob Bach das unterstreichen wollte, hat er über die Alt-Stimme in der erwähnten Arie kunstvoll die Trompete gesetzt. Sie vermittelt einen verheißungsvollen Kontrast zur verhaltenen Klage der Arie. Mir scheint, als wolle Bach uns Menschen damit vor lähmendem Selbstmitleid und Selbstentschuldigungen nach dem Motto „Wir können doch nicht die ganze Welt retten“ warnen und uns mit der Trompetenstimme an das Wort Jesu erinnern, mit dem dieser das Gespräch mit dem Schriftgelehrten beendet:
Geh hin und tu desgleichen.
Dieses Wort schwingt auch mit, wenn mit dem letzten Akkord des Schlusschorals eine Art Doppelpunkt gesetzt wird. Das hört sich so an, als müssten weitere Strophen folgen. Doch die werden wir singen müssen - nachher, morgen, mit unseren durch den Glauben geförderten Möglichkeiten:
Dass er sei tätig durch die Lieb
Mit Freuden und Geduld sich üb,
Dem Nächsten fort zu dienen.
Gebet
Gott, unser Vater,
wir danken dir für deine Liebe.
Mit ihr ebnest du uns den Weg zum Nächsten,
auch indem du uns ihn, den Feind,
in den Weg legst.
Wecke uns auf aus unserer Gedankenlosigkeit
und Gleichgültigkeit.
Lass uns durch die Gottes-
und Nächstenliebe das finden,
was wir suchen:
ein menschenwürdiges Leben.
So beten wir mit Jesu Worten:
Vater unser ...
Christian Wolff, Pfarrer i.R.