Motettenansprache

  • 17.03.2017
  • Pfarrer Hundertmark

17.03.2017, St. Thomas zu Leipzig um 18 Uhr

Liebe Motettengemeinde,

manchmal fehlen die Worte, um das auszudrücken, was uns Menschen bewegt. Sowohl freudige Ereignisse wie auch schrecklich Erlebtes lässt sich nicht immer in Worte fassen. Dafür haben wir dann den Jubelschrei oder das Entsetzen, die Tränen, Gesten oder den freudigen Luftsprung. Der Apostel Paulus verknüpft solcherlei Erfahrungen mit einem Thema, das für Christen genuin ist – das Gebet.

„denn wir wissen nicht, was wir beten sollen“ schreibt er im Römerbrief. Dabei geht es nicht in erster Linie um ein richtiges oder falsches Beten, sondern um die Beschreibung eines Zustandes. Was tun, wenn die Worte fehlen und doch die Not groß ist, so dass ich mich an Gott wenden will?

Die Sprachlosigkeit über gesellschaftliche oder kirchliche Entwicklungen betrifft gelegentlich auch das Gebet, so unterschiedlich die Bewertungen dessen, was uns bewegt auch sein mögen. Einer freut sich darüber, dass in dieser Woche mit den niederländischen Wahlen ein so starkes Zeichen gegen den sich ausbreitenden Rechtspopulismus gesetzt wurde; eine andere bedauert genau das. Vielleicht haben beide im Vorfeld gebetet? Wann ein Gebet erhört wird und wann verworfen, lässt sich nicht wie in einer Tabelle ablesen.

Aus den Worten des Apostels Paulus können wir mitnehmen, dass unsere gelegentliche Sprachlosigkeit nicht in Verzweiflung enden muss. Wo der Mensch zu schwach ist für Worte, hilft Gottes Kraft, hilft sein Geist. Er tut das mit einem unaussprechlichem Seufzen und macht sich dadurch unser Leid zu eigen. Dafür steht Jesus Christus, dessen Leidensweg auch mein Leiden mitnimmt. Die Passionszeit will uns daran erinnern und zwar nicht in der Schnelllebigkeit, die uns sonst umgibt, sondern in sieben langen Wochen. Das heißt nun nicht, sieben Wochen mit betretener Mine durch den Alltag zu gehen. Vielmehr will diese Zeit einladen, sich dessen bewusst zu werden, dass menschliches Leid, für das wir oftmals selber Verantwortung tragen, unendlich wird, wenn es keine Entlastung gibt. Im Tragen des eigenen Kreuzes eröffnet uns Jesus Christus ein Bild für die Entlastung – Ich trage dort euer Leid mit. Im für den Karfreitag komponierten Spruch von Felix Mendelssohn Bartholdy aus dem Philipperbrief wird das Christusgeschehen als ein Geschehen von Erniedrigung und Erhöhung zugleich beschrieben. Weil Gottesferne viele unsere menschlichen Entscheidungen bestimmt, entstehen Leid und Verzweiflung. Das aufzuheben, vermag der Mensch nicht alleine. In Christus geschieht dann das wundersame, so schwer zu verstehende, aber doch zu glaubende Ereignis: Er leidet mit, unschuldig. Darin vollendet sich Gottes Kraft – in genau jener Schwachheit, die von vielen belächelt wird. Der Vater Jesu Christi ist ein Gott der Schwachen, weil er sich ihrer Anliegen annimmt. Ich teile sie, sagt er durch den Sohn. Zu mir könnt ihr kommen, selbst dann, wenn euch die Worte fehlen.

„der Geist vertritt uns aufs Beste mit unaussprechlichem Seufzen“

Darin wird alles aufgenommen. Seufzen ist ein Ausdruck von Klage, ist eine Geste für ein „Ich-weiß-nicht-mehr-weiter“ des Verzweifelten. Gut, dass wir jemanden haben, der unser Seufzen nicht belächelt oder abtut mit den Worten, „glaube nur stärker, dann wird es dir besser gehen.“ Indem wir vertreten werden durch Gottes Kraft und einen mitleidenden Christus, wird gleichermaßen das Fundament gelegt, auf dem ich mein Vertrauen gegenüber Gott aufbauen kann. Es ist jenes Ernstnehmen des jeweils individuell erfahrenen Leides, ohne zu urteilen, so wie wir Menschen gerne urteilen, das den qualitativen Unterschied ausmacht.

Noch einmal, was sollen wir beten? In einer Erzählung aus der Kabbala wird von einem Gelehrten berichtet. Ihm erlaubt Gott, seinen himmlischen Gesprächspartner schon bei Lebzeiten kennen zu lernen. Der reist zu ihm und sucht ihn in seinem Dorf im Lehrhaus, trifft ihn aber nicht dort, sondern in einer bescheidenen Hütte. Er besitzt kein einziges Buch. Fassungslos fragt ihn sein Besucher: "Wie kannst du beten - ohne jedes Buch?" Er antwortet: "Ich kann nicht lesen, deshalb habe ich kein Buch. Aber ich kann das Alphabet aufsagen. Und dann bitte ich Gott, aus meinen Buchstaben Gebete zu machen." Amen.

Pfarrer Martin Hundertmark (hundertmark@thomaskirche.org)