Motettenansprache
- 13.11.2021
- Pfarrerin Britta Taddiken
Motette am 13. November 2021
Johann Sebastian Bach
Wachet! betet! betet! wachet! Kantate BWV 70 zum 26. Sonntag nach Trinitatis (EA: 21. November 1723)
1. Coro
Wachet! betet! betet! wachet!
Seid bereit
Allezeit,
Bis der Herr der Herrlichkeit
Dieser Welt ein Ende machet.
2. Recitativo (Bass)
Erschrecket, ihr verstockten Sünder!
Ein Tag bricht an,
Vor dem sich niemand bergen kann:
Er eilt mit dir zum strengen Rechte,
O! sündliches Geschlechte,
Zum ewgen Herzeleide.
Doch euch, erwählte Gotteskinder,
Ist er ein Anfang wahrer Freude.
Der Heiland holet euch, wenn alles fällt und bricht,
Vor sein erhöhtes Angesicht;
Drum zaget nicht!
3. Aria (Alt)
Wenn kömmt der Tag, an dem wir ziehen
Aus dem Ägypten dieser Welt?
Ach! lasst uns bald aus Sodom fliehen,
Eh uns das Feuer überfällt!
Wacht, Seelen, auf von Sicherheit
Und glaubt, es ist die letzte Zeit!
4. Recitativo (Tenor)
Auch bei dem himmlischen Verlangen
Hält unser Leib den Geist gefangen;
Es legt die Welt durch ihre Tücke
Den Frommen Netz und Stricke.
Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach;
Dies presst uns aus ein jammervolles Ach!
5. Aria (Sopran)
Lasst der Spötter Zungen schmähen,
Es wird doch und muss geschehen,
Dass wir Jesum werden sehen
Auf den Wolken, in den Höhen.
Welt und Himmel mag vergehen,
Christi Wort muss fest bestehen.
Lasst der Spötter Zungen schmähen;
Es wird doch und muss geschehen!
6. Recitativo (Tenor)
Jedoch bei dem unartigen Geschlechte
Denkt Gott an seine Knechte,
Dass diese böse Art
Sie ferner nicht verletzet,
Indem er sie in seiner Hand bewahrt
Und in ein himmlisch Eden setzet.
7. Choral
Freu dich sehr, o meine Seele,
Und vergiss all Not und Qual,
Weil dich nun Christus, dein Herre,
Ruft aus diesem Jammertal!
Seine Freud und Herrlichkeit
Sollt du sehn in Ewigkeit,
Mit den Engeln jubilieren,
In Ewigkeit triumphieren.
8. Aria (Tenor)
Hebt euer Haupt empor
Und seid getrost, ihr Frommen,
Zu eurer Seelen Flor!
Ihr sollt in Eden grünen,
Gott ewiglich zu dienen.
9. Recitativo (Bass)
Ach, soll nicht dieser große Tag,
Der Welt Verfall
Und der Posaunen Schall,
Der unerhörte letzte Schlag,
Des Richters ausgesprochne Worte,
Des Höllenrachens offne Pforte
In meinem Sinn
Viel Zweifel, Furcht und Schrecken,
Der ich ein Kind der Sünden bin,
Erwecken?
Jedoch, es gehet meiner Seelen
Ein Freudenschein, ein Licht des Trostes auf.
Der Heiland kann sein Herze nicht verhehlen,
So vor Erbarmen bricht,
Sein Gnadenarm verlässt mich nicht.
Wohlan, so ende ich mit Freuden meinen Lauf.
10. Aria (Bass)
Seligster Erquickungstag,
Führe mich zu deinen Zimmern!
Schalle, knalle, letzter Schlag,
Welt und Himmel, geht zu Trümmern!
Jesus führet mich zur Stille,
An den Ort, da Lust die Fülle.
11. Choral
Nicht nach Welt, nach Himmel nicht
Meine Seele wünscht und sehnet,
Jesum wünsch ich und sein Licht,
Der mich hat mit Gott versöhnet,
Der mich freiet vom Gericht,
Meinen Jesum lass ich nicht.
Matthäus 25,31-46
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, 32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, 33 und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. 34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! 35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. 37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? 38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? 39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? 40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. 41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! 42 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. 43 Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht. 44 Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? 45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. 46 Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.
Liebe Gemeinde,
in der heutigen Kantate geht es um das Ende der Welt. „Seid bereit alle Zeit bis der Herr der Herrlichkeit dieser Welt ein Ende macht.“ Alles fällt und bricht krachend in sich zusammen. Da ist von „des Höllenrachens off‘ner Pforte“ die Rede – und von viel Zweifel, Furcht und Schrecken angesichts der Frage, ob man beim Jüngsten Gericht zu den Guten oder zu den Bösen gehört. Die Kantate fordert uns heraus mit unglaublicher Spannung, da geht es sofort los mit der Trompete, die das Ende ankündigt. Der Chor reißt einen mit, rüttelt einen wach und auch danach geht es sofort weiter. Absolute Aufmerksamkeit. Bach erlaubt uns nicht, dass wir uns ihnen entziehen, diesen biblisch apokalyptischen Bildern und dem, was sie in uns auslösen an Gefühlen. Zum Beispiel aus der Altarie: „Lasst uns bald aus Sodom fliehen, eh uns das Feuer überfällt. Wacht, Seelen, auf von Sicherheit und glaubt, es ist die letzte Zeit.“
Glauben wir an so etwas wie ein jüngstes Gericht und an so etwas wie ein Ende der Erde, an so etwas wie das große Gegenstück zum Urknall? Auch wenn wir die Kaffeesatzleser seltsam finden mögen: Ich denke, ja. Wir haben unsere Vorstellungen, wir haben unsere Ängste und wir haben unsere Hoffnungen. Auch wenn das hier gebrauchte Vokabular heute eher bei den Verschwörungstheoretikern Verwendung findet, die in allem Möglichen das Ende dieser Welt angedeutet sehen. Das sind nicht wenige und es ist wirklich gar nicht so selten, dass Menschen bei uns in den Seelsorgesprechstunden in der Thomaskirche sitzen, bei denen dieses Spekulieren tiefsitzende Ängste bedient. Und nicht zuletzt finden apokalyptische Bilder dieser Art ja durchaus Verwendung und werden verstanden: Worte wie „Flüchtlingslawine“ – eine Lawine, die alles unter sich begräbt und die für die von ihr Erfassten in der Regel tödlich endet – was ist das letztlich anderes als eine Beschwörung des Endes? Da ist schon Wachheit gefragt, was damit beschworen werden soll – dem Frieden zwischen uns und auch in uns dient das sicher nicht.
Was aber spielt denn nun dieser Gedanke mit dem jüngsten Gericht für eine Rolle, wo alles ans Licht kommt? Zunächst einmal denke ich, wir haben dieses Szenario im Wesentlichen verlagert: in uns selbst – und auch auf die zwischenmenschliche Ebene. Und dabei sind wir uns zum einen selbst die schärfsten Richter und Kritiker und merken zum anderen aber auch, dass wir vielen Maßstäben, die wir an uns selbst anlegen, nicht genügen. Es soll möglichst alles perfekt sein, immer optimiert werden – und das betrifft alle Bereiche unseres Lebens, angefangen mit dem eigenen Körper, der eigenen Seele, der Familie, der Schule, der Arbeit. Es ist schon erstaunlich, wie gnadenlos wir da manchmal mit uns selbst umgehen und alles nicht Gelungene, selbst Geringfügigkeiten, in uns abzustrafen bereit sind und letztlich selbst so sind wie der strenge Richter der biblischen Apokalyptik.
Zugleich aber leben wir mit einer Riesenangst vor diesem inneren Gericht – oder auch vor dem äußeren. Was die anderen sagen über uns. Bloß nicht auffallen, bloß keine profilierte geschärfte zugespitzte Meinung vertreten. Da lieber ein bisschen mehr verdecken als offen zu zeigen, bis dahin, dass wir das vor uns selbst zu verstecken suchen. Obwohl wir wissen, es könnte sehr reinigend wirken, käme es endlich ans Licht und müsste ich es nicht mehr im Dunkeln hüten…
Es ist vielleicht die größte Leistung der Reformation gewesen zu entdecken, dass wir uns aus diesem Teufelskreis, in dem wir unser eigener Richter und unsere eigene Richterin sind, nicht selbst befreien können – und dass von daher der Gedanke an ein allgemeines Gericht vor Gott letztlich ein befreiender ist. Dass im Letzten nicht wir es sind, die sich selbst oder gegenseitig richten – und dass der äußere Richter durchaus gnädiger ist als der in uns.
Denn darauf läuft es auch in der Kantate zu: Dieses Gericht nimmt kein schreckliches Ende, sondern ein gnädiges. Denn da ist einer, der für uns wirbt und uns nicht behaftet auf dem, was uns nicht gelungen ist. Das ist schon ganz am Anfang so im ersten Bassrezitativ: „Der Heiland holet euch, wenn alles fällt und bricht, vor sein erhöhtes Angesicht; darum zaget nicht“. Und dann gibt es im Schlusschoral eine wunderbare Formulierung; Jesus, „der mich freiet“ vom Gericht. „Freiet“, das heißt gerade nicht, dass er mich befreit, dass mir das erspart bleibt, dass es gar kein Gericht gibt. Wenn wir die Vorstellung an ein jüngstes Gericht ablehnen, wie immer es aussehen mag, bei dem wir zur Verantwortung gezogen werden, würden wir damit zugleich verneinen, verantwortliche und mit freiem Willen ausgestattete Menschen zu sein. Aber gerade für die wird hier geworben, für die, die an diesem Anspruch nun mal immer auch scheitern. Und das hat schon etwas zartes fast Erotisches. Freien – um eine Braut werben. Das ist es was Jesus tut: Er wirbt für mich vor dem Gericht – was für eine Vorstellung! Da muss dann auch nichts mehr schamvoll verdeckt werden. Sondern da kann, was unrecht und ungerecht ist, benannt werden. Und zwar alles, was Menschen widerfährt an Ungerechtigkeit, all das, was da ungeahndet bleibt, so sehr wir uns bemühen mögen sozial, politisch oder anderweitig. Der Gedanke, es wird den Moment geben, da wird die auf Erden nicht herzustellende Gerechtigkeit für alle da sein. Gott wird es gut machen. Ja, das ist tröstlich – und in den beiden Chorälen der Kantate ist das unglaublich umgesetzt. Das aber ist aber nichts zum Zurücklehnen und Einschlafen und sich dann eben aus der Welt zurückziehen und alle Bemühungen um Gerechtigkeit sein zu lassen. Sondern es gilt zu wachen. Bereit zu sein. Allezeit. Damit fängt es an und damit hört es auf: „Meinen Jesum lass ich nicht.“
Wir beten:
Gott, wir bitten Dich um Gerechtigkeit und Trost für eine Welt, von der wir den Eindruck haben, sie ist aus den Fugen geraten. Wir bitten Dich für alle, deren Leben ständig bedroht ist von Krieg und Auseinandersetzungen. Für alle, die wir schon gar nicht mehr wahrnehmen, weil es schon so lange dauert. Stärke in uns den Willen, an Frieden und Versöhnung zwischen Menschen, Völkern und Kulturen festzuhalten und gib uns die Kraft, daran zu arbeiten, dort, wo wir leben mit den Menschen, die uns anvertraut sind und wir ihnen. Gemeinsam beten wir: Vaterunser….
Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org