Motettenansprache
- 22.03.2019
- Pfarrer Hundertmark
„Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?“
Liebe Motettengemeinde,
Zeugt der Vergleich Jesu mit den Vögeln und Lilien nicht von grenzenloser Naivität, ja fast schon von Verachtung für die Menschen, die von Sorgen geplagt sind?
Fast möchte man dem zustimmen. Wer in der letzten Monatswoche nicht weiß, wovon er seine Rechnungen bezahlen soll, für den klingt der Hinweis auf die sorglosen Vögel wie Hohn und Spott. Aus vielen Erzählungen, die von Begegnungen Jesu mit seinen oftmals zufälligen Zuhörern berichten, wird deutlich: Er nimmt sich der Nöte und Sorgen seiner Mitmenschen an. Manchen hilft er, neue Perspektiven für ihr Leben zu sehen für die sie vorher blind waren. Andere richtet er auf und hebt sie aus lähmender Gewöhnung und lähmendem Selbstmitleid. Orientierungslosen gibt er Orientierung, indem er sie sich auf das Wesentliche konzentrieren lässt und dadurch die vielen wirren Stimmen im Kopf verstummen. Und diejenigen, die den permanenten Einflüsterern ausgesetzt sind, macht er stark.
In diesem Kontext möchte ich den heutigen Tageslosungsvers aus Matthäus 6 sehen.
Für die Sorgen gibt es zahlreiche Bilder. Sorgen werfen Schatten oder bestimmen den gesamten Alltag. Jegliches Tun und Handeln richtig sich daran aus, Sorgen zu mindern. Dabei merken die Menschen gar nicht wie die Sorgen langsam und stetig immer mehr Macht über sie gewinnen.
Nahrung, Trinken und Kleidung sind wichtig. Ohne diese Grundelemente menschlichen Daseins kämen wir nur schwer zurecht im Leben. Doch wie schnell werden sie zum alles bestimmenden Moment?
Die Frage nach dem Aussehen, welche Hose, welches Kleid, welche Schuhe, welches Hemd oder welche Handtasche zum jeweiligen Tag bzw. Anlass passen, kann am Ende viel Zeit in Anspruch nehmen. Diese Zeit ist auch wertvolle Lebenszeit. Und diejenigen, die immer nur nach der nächsten Mahlzeit schauen, verpassen den Blick über den Tellerrand hinaus.
Jesus Christus lädt in der Bergpredigt mehrfach zum Perspektivwechsel ein. In diesem Abschnitt verknüpft er seine Einladung mit den allmächtig werdenden Sorgen. Sein Verweis auf Vögel und Lilien ist mit Sicherheit kein Zynismus gegenüber denen, die im Elend sitzen. Ebenso wenig ist er eine Einladung an die Faulen. Ein Vogel fliegt zigmal am Tag hin und her, um Nahrung zu finden. Reich Gottes bedeutet nicht, dass ähnlich im Schlaraffenland die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Reich Gottes bedeutet vielmehr: Gott nimmt mich als Menschen ernst. Für ihn bin ich noch viel wertvoller als all die schönen Gewächse und Lebewesen in der Natur.
Das, liebe Motettengemeinde, nenne ich neue Lebensperspektive. Jesu Einladung, über den Tellerrand zu schauen, weitet meinen Blick für die schönen, oftmals kleinen und unscheinbaren Dinge, die wie selbstverständlich meinen sorgenvollen Alltag umgeben. Geschaffen zur Freude, sind sie durch den Sorgenschleier meinem Blick entzogen. Deshalb greift Jesus Christus hier ein.
Sorgen können Menschen niederdrücken. Hilfe für sie geschieht am ehesten dort, wo sich der Blick wieder aufrichtet. Wer sich von Ängsten und Sorgen regieren lässt, dessen Blick bleibt am Boden haften, dessen Entdeckungsradius wird eingeschränkt und am Ende kreist der Mensch ausschließlich nur noch um sich selbst, unfähig aus diesem Strudel herauszukommen.
Leben ist mehr als deine momentanen Sorgen – zu diesem Perspektivwechsel möchte Jesus Christus täglich einladen.
Gleichsam dem Psalmbeter, der seine Augen aufhebt zu den Bergen und sich von Gott Hilfe zu erhoffen, darf ich Mensch darauf vertrauen, dass meine Sorgen nicht das letzte Wort über mein Leben sprechen werden, sondern Gott dies tut.
Der von Jesus Christus angeregte Blickwechsel entbindet den Menschen nicht von seiner Verantwortung für das eigenen Leben oder die Natur. Er dient aber dazu, die Gewichtung im eigenen Leben neu zu verteilen.
Martin Luther fasst mit seinen Worten eine Alltagsweisheit zusammen, die uns lehrt, den Sorgen ihren Platz zu geben, aber nicht die Macht über unser Leben:
„Dass die Vögel der Sorge und des Kummers über Deinem Haupt fliegen, kannst Du nicht ändern. Aber dass sie Nester in Deinem Haar bauen, das kannst Du verhindern.“ M. Luther
Martin Hundertmark, Pfarrer an der Thomaskirche, hundertmark@thomaskirche.org
Lesung aus Matthäus 6
„Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?
26 Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?
27 Wer ist aber unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?
28 Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht.
29 Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen.
30 Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: Sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen?
31 Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden?
32 Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.
33 Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.
34 Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.“
Psalm 121
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?
2 Meine Hilfe kommt vom HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat.
3 Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht.
4 Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht.
5 Der HERR behütet dich; der HERR ist dein Schatten über deiner rechten Hand,
6 dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts.
7 Der HERR behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele.
8 Der HERR behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit!