Motettenansprache
- 12.04.2019
- Pfarrer Martin Hundertmark
Liebe Motettengemeinde,
als einzige Möglichkeit mit der Außenwelt Kontakt zu halten, sind ihm die Briefe geblieben. Herausgeschmuggelt durch einen ihm freundlich gesonnenen Wärter, erreichen sie den treuen Freund und Weggefährten, der sie sammelt und für die Nachwelt unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“ veröffentlicht.
In ihnen finden theologische Schriften und ganz persönliche Gedanken für seine Familie und für seine Freunde und auch dieses Gedicht:
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücksgleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich?
Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott. (Dietrich Bonhoeffer)
Am 9. April 1945, kurz vor Kriegsende, wurde Dietrich Bonhoeffer, der Verfasser dieses Gedichtes, im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet. Wir gedachten am Dienstag seines 74. Todestages.
Für Bonhoeffer war u. a. eine Frage in Bezug auf sein Leben von besonderer Wichtigkeit.
Was bedeutet Nachfolge Jesu?
Er hat sie für sich so beantwortet, dass, wer Jesus Christus nachfolgen will in seinem Leben, der ihm auch im Leid nachfolgen wird.
Auf die Spitze getrieben, könnte man sogar formulieren: Nachfolge Christi ohne Leid ist schlichtweg nicht möglich.
Es beginnt alles schon mit der Entscheidung, die immer auch mit einen Bruch mit den bisherigen Gegebenheiten einhergeht.
In den folgenden Tagen erinnern wir uns besonders an die Passion Christi. Sie hält uns vor Augen, welche Konsequenz die Nachfolge hat. Und der betende, ängstliche Jesus im Garten Gethsemane ist ähnlich zerrissen wie Dietrich Bonhoeffer in seinem Gedicht.
In Situationen, die unser Leben anfechten, die an den Grundpfeilern des eigenen Glaubens rütteln, wird plötzlich alles hinterfragt. Wie sehen mich die anderen, denen ich Vorbild bin, denen ich Stärkung und Kraft für ihren Glauben gebe?
In der Einsamkeit der Gefängniszelle entblättert sich Bonhoeffers Glaube bis zum Kern. Und es wird deutlich: Ja, wir Menschen können in solcher Zerrissenheit leben, können heute dieser Ängstliche und morgen jener Mutige sein.
Passionszeit ist Zeit der Erinnerung an das, was Liebe bewirken kann. Aus Liebe geht Jesus Christus unseren Weg bis zum Ende.
Sein Kreuz hilft,
-dass wir nicht zu Kreuze kriechen müssen vor denen, die den Menschen über alles stellen und dabei ihre eigene Verankerung verlieren;
-oder beim Widerstand, wenn menschliches Leben per Bluttest mit unterschiedlicher Würde etikettiert werden soll.
„Widerstand und Ergebung“. Der Titel für die Schriftensammlung Bonhoeffers geht mir nicht aus dem Kopf. Vor allem in Bezug auf die Gegenwart suche ich nach seiner Konkretion. Sind mit „Widerstand“ und „Ergebung“ zwei Brennpunkte im Alltagsleben eines glaubwürdigen Christseins beschrieben?
Mein Antwortversuch könnte so aussehen:
Aus dem tiefen Glauben heraus kann ich mich in Gottes Willen, in seine Führung ergeben und bekomme so die Kraft zum Widerstehen, wenn von mir verlangt wird, mich gegen Christus und seine Liebe zu stellen.
Die berechtigten Zweifel zwischen diesen beiden Brennpunkten lassen mich immer wieder fragen, Wer bin ich? Wo ist „Widerstand“ und wo ist „Ergebung“ vonnöten?
Bonhoeffers Gewissheit wird zu meiner eigenen.
„Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich o Gott.“ Amen.
Gebet
„Sprich Du das Wort, das tröstet und befreit und das mich führt in deinen großen Frieden. Schließ auf das Land, das keine Grenzen kennt, und lass mich unter deinen Kindern leben. Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst. Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete.“ (EG 382, 3)
Was uns bewegt, bringen wir mit den Worten Jesu Christi vor dich: Vater unser im Himmel…
Martin Hundertmark, Pfarrer an der Thomaskirche, hundertmark@thomaskirche.org