Motettenansprache

  • 18.05.2019
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Liebe Motettengemeinde,

 Was ist Wahrheit? fragt Pilatus in der johanneischen Version der Leidensgeschichte Jesu als Antwort auf dessen Aussage: „Ich bin in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge.“ Zuvor hat Jesus seine Jünger auf den unweigerlichen Abschied vorbereitet. In den sogenannten Abschiedsreden finden wir die biblische Textgrundlage für die heutige zu Gehör kommende Kantate: „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten.“ (Johannesevangelium Kap. 16)

Was ist Wahrheit? fragen auch wir in einer von sogenannten „alternativen Fakten“ dominierten Gegenwart. Schon der Begriff „alternative Fakten“ offenbart das ganze Dilemma. Die Alternative zu Fakten ist schlichtweg Lüge – das klingt nur nicht so schön.

Schauen wir heute auf Wahrheiten und fangen an mit

 1.)  Banale Wahrheiten

Sie geben nur wieder, was eigentlich jeder weiß.

Nachts ist es dunkel. Was tot ist kann nicht sterben. Morgen ist Sonntag oder Der Winter kommt nach einem langen Sommer. Mit ihnen brauchen wir uns nicht weiter zu beschäftigen.

2.) Alternative Wahrheiten

Werden uns feilgeboten auf dem Markt der interessengeleitenden Möglichkeiten. Schön verpackt haben sie eine große Anziehungskraft. Meistens werden dabei Dinge vermischt oder verkürzt. Das geschieht aber nicht offensichtlich. So fällt es schwer, Falsches von Richtigem zu unterscheiden. Nehmen wir Beispiele aus der Religion. Die Bibel sagt, Menschen die als Mann und Frau anders lieben, handeln gegen Gottes Willen, weil sich Verse finden lassen, die das scheinbar unterstreichen. Da liegt ja genau das Problem. Denn die große Linie der Bibel von Gottes unendlicher Liebe wird im absoluten Verständnis des Wortes Gottes verlassen.

Wo Menschen sich in Liebe und Verantwortung begegnen, ihr Leben miteinander teilen, erfüllt sich vielmehr Gottes Wort, weil sie so zum Segen für andere werden.

Oder nehmen wir die religiös motivierte Kopfbedeckung zu der sich in verschiedenen Religionen Verse finden lassen. Ein Kopf ist zumindest bei uns hier zum Denken da und nicht zum Verschleiern.

Der Blick nach Rom zeigt, dass es offensichtlich einen Zusammenhang zu geben scheint, zwischen dem, was auf dem Kopf getragen wird und dem Grad der Heiligkeit.

Wer aber Verzierungen auf dem Kopf braucht, um Gott nahe sein zu können, der kann einem eigentlich nur leidtun.

3.) Einfache Wahrheiten

Mit Ihnen wird gerne Politik gemacht. Wir erleben das gerade im Wahlkampf.

Wo uns allzu einfache Wahrheiten aufgetischt werden, lohnt es sich zu hinterfragen, damit wir uns an ihnen nicht verschlucken.

Dennoch gibt es sie – die einfache Wahrheit.

Der Präsident des Fußballclubs Eintracht Frankfurt hat zum Beispiel unmissverständlich klar gemacht: Eine Mitgliedschaft im Verein und gleichzeitig Anhänger der sogenannten Alternative für Deutschland zu sein, schließt sich aus. Denn die jeweils vertretenen Werte stehen sich unüberbrückbar gegenüber.

Solche Klarheit ist auch für unsere Kirche wünschenswert. Mit nur wenig Kenntnis der Grundsätze der Bibel wird sofort offenbar: Christsein passt nicht zu einer Partei, die Menschenwürde mit den Füßen tritt, da mag sie hundertmal einen demokratischen Farbanstrich haben. Nächstenliebe verlangt Klarheit, erst recht gegenüber einem aufkommenden Nationalen Sozialismus.

4.) Göttliche Wahrheit

Gib es sie überhaupt?

Gottes Geist wird in die Wahrheit führen - verheißt Jesus Christus als große tröstende Zusage seiner Gemeinde. Tröstend deshalb, weil damit deutlich wird: Wir sind nicht alleine gelassen. Unsere gelegentlich gefühlte Gottverlassenheit ist kein dauerhafter Zustand. Vielmehr wird der Tröster zum Beistand in untröstlicher Zeit. Darüber hinaus führt er uns zur Wahrheit.

Was braucht es dafür? Zunächst einmal nicht viel mehr als glaubendes Vertrauen und die Bereitschaft, sich für Jesus Christus zu öffnen. Das aber wiederum heißt, auf sein Wort zu hören. Wo dies gelingt, wird sich die von ihm verheißene Wahrheit erkennen und was noch viel wichtiger ist, auch leben lassen.

Folgen wir den Worten Jesu, folgen wir seinem Weg, lässt sich Frieden finden, innerer Frieden, den ich mit Gott habe. Auf dem Weg dorthin ist wohl viel angstgebärende Dunkelheit. Zweifelflüsterer versuchen mich einzuschüchtern „Das war schon immer so. Du kannst das nicht. Wir wissen es besser als Du.“

Dem allen tritt die Liebe Gottes entgegen.

Du bist geliebt und angenommen, trotz aller Zweifel. Und selbst Fehler, die du bereust, werden dich nicht aus solcher Liebe reißen können.

Damit erfahren wir Entlastung. Gott entlastet uns vom todbringenden Egoismus.

„Ich zuerst“ führt niemals zum gelingenden Leben, sondern hinterlässt einen Scherbenhaufen kaputter Beziehungen. Vertrauen wir der Entlastung Gottes, wird sich innerer Frieden einstellen.

Aus solcher, im wahrsten Sinne des Wortes, inneren Haltung bin ich befähigt, auch Anderen Frieden zu bringen.

 In der Alt-Arie der Kantate kommt bittend zum Ausdruck, was wir nötig haben:

„Überschütte mich mit Segen,

führe mich auf deinen Wegen,

dass ich in der Ewigkeit

schaue deine Herrlichkeit“.

Gottes Segen entfaltet sich in uns und durch uns und führt letztlich in den uns verheißenen Frieden. Dass wir dafür seinen Geist als Wegweiser brauchen, damit wir nicht den Zeit- und Ungeistern ständig anheimfallen, macht Johannes theologisch und Bach musikalisch deutlich.

 Liebe Motettengemeinde,

Was ist Wahrheit? – nicht die uns vorgegaukelten und nach unserem Wohlwollen ausgewählten kurzen Sätze.

Wahrheit ist die Bereitschaft, die Realität anzuerkennen. Selbst um den Preis der eigenen Karriere oder des eigenen Glücks, den Mund aufzumachen, um auch unbequeme Wahrheiten zu offenbaren – dafür ist Mut notwendig.

Jesus Christus konfrontiert seine Jünger mit der unweigerlichen Wahrheit, die da heißt: Mich gibt es nicht mehr zum Anfassen. Den Helden aus Judas Stamm werdet ihr nicht mehr sehen.

Aber ich werde trotzdem bei und in euch sein.

„Folgt dem Geist der Wahrheit“, ermutigt uns Jesus Christus. Er traut das jedem zu.

Deshalb braucht es auch keine großen Helden, um der Wahrheit Gehör zu verschaffen.

Das heldenhafteste, das wir tun können, ist, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und danach zu handeln. Für die kommende Woche heißt das ganz konkret.

Demokratie gibt es nicht im Museum.

Sie muss errungen, gelebt und manchmal auch verteidigt werden. Amen.

 

Martin Hundertmark

Pfarrer an St. Thomas zu Leipzig

(hundertmark@thomaskirche.org)