Motettenansprache

  • 17.06.2022
  • Rev. Dr. Robert G. Moore

Ansprache zur Motette im Rahmen des 2022 Leipziger Bachfest

Mit dem Bach Collegium Barcelona unter der Leitung von Pau Jorquera

Thomaskirche zu Leipzig

16. Juni 2022

The Reverend Dr. Robert Moore, Gast Pfarrer an der Thomas Kirche

 

Lesung (gesungen)

Johann Ludwig Bach (1677–1731)

Unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, JLB 33

Motette für sechsstimmigen Chor und Basso continuo

 

Unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist,

schaffet eine ewige und über alle Maß wichtige Herrlichkeit;

uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare,

sondern auf das Unsichtbare.

(2. Korinther 4, 17f.)

 

Ansprache

In der Fernsehserie „Die Krone“ steht Winston Churchill, der wohl bedeutendste Premierminister Großbritanniens, im Mittelpunkt. Churchill regierte von 1940-1945 und noch einmal von 1951-1955. Das Parlament wollte den großen Politiker mit einem Porträt zum 80. Geburtstag ehren. Dieses sollte im Parlamentsgebäude aufgehängt werden. Den Auftrag für das Werk bekam der britische Maler Graham Sutherland, ein Expressionist. Er war als Porträt-Maler sehr berühmt.

Churchill versuchte, den Maler zu überzeugen, den alt gewordenen Regierungschef schmeichelnd zu porträtieren. Sutherland war aber nicht der Typ, solche Wünsche zu erfüllen. Bei der Enthüllung des Porträts vor den Parlamentsmitgliedern war Churchill entsetzt, dass er nicht, wie er es sich gewünscht hatte, vorteilhaft dargestellt war. Sutherland hatte ihn so gemalt, wie er wirklich war. Churchill nahm das Porträt mit nach Hause, wo seine Frau das Kunstwerk später zerstören ließ.

In der Fernsehserie besucht der Künstler den alten Churchill zu Hause. Er wollte den Premierminister überreden, das Porträt dem Parlament zurückzugeben. Churchill lehnte das mit der Behauptung ab: Das Porträt ist keine Kunst, sondern eine Demütigung. Der Künstler wies diese Behauptung zurück. Er erwiderte, dass er nicht die Absicht gehabt hätte, Churchill zu peinigen. Er erklärte, dass er die Skizzenblätter seiner Frau gezeigt habe. Diese hätte damals gesagt, dass das Porträt akkurat wäre. Churchill widersprach: Das, was Sutherland gemalt habe, ist kein angemessen wahrhaftes Bildnis von ihm. „Doch das ist es“, erwiderte Sutherland. „Nein! Es ist grausam“, schrie der alte Mann. „Lebensalter ist grausam!! Wenn Sie Verwesung sehen, dann ist es, weil es Verwesung ist. Wenn Sie Schwachheit des Alters sehen, dann ist es, weil es diese Schwachheit ist. Ich bin nicht schuld, dass es so ist, und ich weigere mich, das zu verstecken und zu verbergen, was ich sehe. Wenn Sie gegen etwas kämpfen, kämpfen Sie nicht gegen mich. Sie kämpfen mit Ihrer eigenen Blindheit“.

Genau das meint der Apostel Paulus in dem Gedanken aus dem 2. Korintherbrief. Wir haben ihn in der Vertonung von Johann Ludwig Bach gehört:

16 Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. 17 Denn unsre Bedrängnis, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, 18 uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig. (2. Korinther 4,16-18)

Wir können Churchill hören, als er klagte, „das ist kein angemessen wahrhaftes Bildnis von mir!“ Churchill wollte, dass Sutherland malen sollte, was man nicht sehen kann. Sutherland antwortete, dass er nur malen kann, was er tatsächlich sieht.

Liebe Gemeinde, es ist ein altes Vorurteil, dass der Glaube blind mache – blind für die Wirklichkeit, die Wissenschaft, den Menschen. Doch es ist genau umgekehrt: Der Glaube erschließt die Wirklichkeit neu – nicht nur die, die wir sehen, sondern auch die, die sich hinter unserer Anschauung auftut. Der Glaube beschönigt nichts, sondern legt offen. Martin Luther sagte einmal: „Der Theologe der Herrlichkeit nennt das Schlechte gut und das Gute schlecht. Der Theologe des Kreuzes nennt die Dinge, wie sie wirklich sind.“ Luther wusste, dass Wirklichkeit aus mehr besteht als aus dem, was wir mit den Augen sehen können. Das ist ja immer nur ein Ausschnitt, die Oberfläche. Vor vielem verschließen wir auch die Augen. Wir blicken nicht hinter die Kulissen. Der Glaube an Jesus Christus öffnet uns die Augen und weitet den Blick. So nehmen wir wahr: menschliche Niedertracht, Krankheiten, Altwerden, Leiden und Tod. Wenn wir auf Jesus schauen, dann werden uns durch sein Leben und Wirken, durch sein Leiden und seinen Tod, die Augen geöffnet und wir sehen genau das, wovor wir die Augen verschließen.

Es gibt aber etwas, worauf wir vertrauen - auch wenn wir das nicht sehen können. Das ist das Vertrauen auf Gott. Wir können Gott nicht sehen, aber wir können auf ihn vertrauen – so wie Jesus es getan hat. An Gott zu glauben, bedeutet: das Unsichtbare ahnen. In diesem Sinn ist der Glaube die vierte Dimension des menschlichen Lebens. Sie setzt uns in Beziehung mit Gott, ohne dass wir Gott sehen, lenken, besitzen oder beherrschen. Durch diese Beziehung werden uns die Augen geöffnet für die Wirklichkeit – nicht nur wie sie ist, sondern auch wie sie sein sollte. So können wir in Gelassenheit, Freiheit, Dankbarkeit leben – Gott und dem Nächsten zugewandt. Amen.

 

Gebet

Du unsichtbarer Gott, dich können wir nicht sehen, aber wir ahnen dich durch deine Wirksamkeit unter uns Menschen. Wir spüren dich in jeder Beziehung, wo die Liebe, Anerkennung, Freiheit und Frieden zu erleben sind. Du bist der Gott für Andere, für die Kranken, die Obdachlosen, die Ausgegrenzte, die Alten und die Machtlose. In ihren Gesichtern, wie auch in den Gesichtern unserer Mitarbeiter, Freunden, und Geliebten sehen wir dein Wirken. Hilf uns, das zu lernen und erwarten, dass wir deine Liebe empfangen und weiter erteilen in diese Welt. Amen.