Motettenansprache

  • 04.05.2019
  • Pfarrerin Taddiken

Johann Sebastian Bach

Der Herr ist mein getreuer Hirt

Kantate BWV 112 zum Sonntag Misericordias Domini (EA: 8.4.1731)

 

1. CHOR

Der Herr ist mein getreuer Hirt,

hält mich in seiner Hute,

darin mir gar nichts mangeln wird

irgend an einem Gute,

er weidet mich ohn Unterlaß,

darauf wächst das wohlschmeckend Gras

seines heilsamen Wortes.

2. ARIA (ALTO)

Zum reinen Wasser er mich weist,

das mich erquicken tue.

Das ist sein fronheiliger Geist,

der macht mich wohlgemute.

Er führet mich auf rechter Straß

seiner Geboten ohn Ablaß

von wegen seines Namens willen.

ï3. RECITATIVO (BASSO)

Und ob ich wandelt im finstern Tal,

fürcht ich kein Ungelücke

in Verfolgung, Leiden, Trübsal

und dieser Welte Tücke;

denn du bist bei mir stetiglich,

dein Stab und Stecken trösten mich,

auf dein Wort ich mich lasse.

4. ARIA (SOPRANO, TENORE)

Du bereitest für mir einen Tisch

vor mein’ Feinden allenthalben,

machst mein Herze unverzagt und frisch,

mein Haupt tust du mir salben

mit deinem Geist, der Freuden Öl,

und schenkest voll ein meiner Seel

deiner geistlichen Freuden.

5. CHORAL

Gutes und die Barmherzigkeit

folgen mir nach im Leben,

und ich werd bleiben allezeit

im Haus des Herren eben,

auf Erd in christlicher Gemein

und nach dem Tod da werd ich sein

bei Christo, meinem Herren.

Wolfgang Meuslin, 1530

 

Johannes 10 i.A.

Jesus Christus spricht: Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. 12 Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –, 13 denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. 14 Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; 

28 und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen

 

Liebe Gemeinde,

wir hören gleich Johann Sebastian Bachs Kantate „Der Herr ist mein getreuer Hirt“. Die Originalpartitur, die Bach hier in der Thomaskirche bei der ersten Aufführung am 8. April 1731 genutzt hat, hat eine bewegende Geschichte. Sie wiederum ist eng verbunden mit der bewegten Geschichte der Stadt Leipzig. Und beides wiederum klingt an im Thema der Kantate selbst, wie wir gleich sehen werden. Nach Bachs Tod gelangte die Partitur in den Besitz seines Sohnes Wilhelm Friedemann. Er verkaufte sie nach Berlin, von wo sie über mehrere Stationen wieder nach Leipzig zurück kam. Max Abraham, Inhaber des Musikverlags Peters, konnte sie erwerben und vererbte sie seinem Neffen Henri Hinrichsen. Als Jude wurde er Ende der 30er Jahre enteignet und die Partitur in die Leipziger Stadtbibliothek überführt. Im April 1945 kam Henri Hinrichsens Sohn Walter nach Leipzig, um sich das beschlagnahmte Eigentum seines 1942 im KZ umgebrachten Vaters aushändigen zu lassen. Er nahm die Partitur mit nach New York, wo sie heute in der Pierpont Morgan Library verwahrt wird. Das war ziemlich genau auf den Tag vor 72 Jahren. 10 Wochen lang hatte seinerzeit die amerikanische Besatzung Leipzigs zusammen mit dem neuen Oberbürgermeister Wilhelm Johannes Vierling begonnen, die notwendigen Schritte zur Normalisierung des öffentlichen Lebens einzuleiten und zumindest damit anzufangen, die NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen.

Die Geschichte der Partitur dieser Kantate spiegelt also eine besondere Fügung der Befreiung von Menschen und eines großartigen Stücks Musik wieder. Und – wie gesagt, letztlich auch das Thema der Kantate selbst. „Der Herr ist mein getreuer Hirt“ ist eine im doppelten Sinne des Wortes christliche Ver-dichtung des 23. Psalms. Hier geht es um Freiheit, die aus Vertrauen wächst. Der zugrunde liegende 23. Psalm ist einer der großen Texte der jüdisch-christlichen Tradition, der unzählige Menschen seit Jahrtausenden tröstet, aufrichtet und ermutigt. Die Ver-dichtung des Chorals vermittelt dabei noch einen besonderen Zusammenhang: Frei sein und frei leben - das können wir, wenn wir einigermaßen sicher wissen, was uns wirklich nährt und stärkt an Leib, Seele und Geist. Da gibt es einige kleine Akzentsetzungen gegenüber dem 23. Psalm: Die Rede ist vom „wohlschmeckend Gras seines heilsamen Wortes“ und der „rechten Straße seiner Gebote“. Wort und Weisung werden betont: die Freiheit des Menschen erwächst danach aus der eigenen Bindung an diese beiden Dinge: Wort und Gebot Gottes. Eine andere Definition von Freiheit als heute weithin üblich: So wie alles grenzenlos sein soll, wird auch Freiheit definiert. Für Juden und Christen aber ist das Selbstverständnis, Geschöpf zu sein, von grundlegender Bedeutung; gelebte Freiheit braucht auch die Bereitschaft zur Bindung und Selbstbegrenzung.

Diese Geschöpflichkeit des Menschen wird im Bild von Hirt und Herde besonders eindrücklich dargestellt. Es ist eins der Urbilder, die sich über Zeiten und Kulturen hinweg erschließen. So geht es außer um  die Orientierung an Wort und Gebot auch an der Zusage, dass der gute Hirte auch in schweren Zeiten da ist und da bleibt. Er setzt sich mit dem eigenen Leben für die Schafe ein, er behält sie im Blick, geht ihnen nach. Auch durch das finstre Tal, das man nur irgendwie durchschreiten kann, wo nichts anderes mehr geht und funktioniert als zu sagen: Weitermachen, weitergehen. Bei allem Vertrauen, bei allem Glauben, gibt es Momente, wo nichts anderes mehr geht weil die Verzweiflung größer ist als alles.

Den Hirten dabei trotzdem hinter sich wissen in „dieser Welt Tücke“, wie es im Bassrezitativ heißt - dieser Tücke, die so viele Spielarten kennt. Das wird in diesem Psalm nicht verschwiegen. Die Feinde sind Realität, und die Momente, wo wir ihnen ins Angesicht schauen müssen, auch. Vielleicht hat der 23. Psalm Menschen gerade deshalb so viel Trost vermitteln können und Befreiung aus trüber Zeit, weil genau das vorkommt: die Bedrohung des Lebens einerseits, aber auch der gedeckte Tisch im Angesicht der Feinde andererseits. Dass man auch dort das Haupt erheben kann und man wieder erfahren kann, was im Duett von Sopran und Tenor voller Lebensfreude gesungen wird: „Macht mein Herz unverzagt und frisch“. Diese Hoffnung, dass es wieder so sein kann und das Unglück einen nicht mehr in Starre verharren lässt, vermitteln die Bilder in dieser Kantate. Und all diese Worte wie das Wohlgemute, das Wohlschmeckende und Unverzagte, die geistlichen und leiblichen Freuden. Dahin geht es das wird bleiben und sich am Ende durchsetzen, so wie im Schlusschoral dieser Kantate. Die Geschichte ihrer Partitur steht wie ein Gleichnis für das, was sie inhaltlich bis heute vermittelt. Dass sich Gutes und Barmherzigkeit am Ende immer durchsetzen werden. Für alle, die davon im Moment wenig spüren, lasst uns beten:

Unser Gott und Vater, sei Du als guter Hirte mit denen, die es gerade schwer haben. Sei an der Seite derer, die sich sorgen und keinen Lebensmut haben. Gib Du ihnen Gefährten zum Geleit, Mut zu Ungewöhnlichem, Hoffnung über das Jetzt hinaus und Liebe zum morgigen Tag. Mit Jesu Worten beten wir:

Vaterunser …

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org