Motettenansprache

  • 13.10.2018
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Johann Sebastian Bach, Der Herr denket an uns Kantate BWV 196 (um 1707/08) für Solisten, Chor, Streicher und Basso continuo

1. Sinfonia

2. Chor
Der Herr denket an uns und segnet uns.
Er segnet das Haus Israel, er segnet das Haus Aaron.

3. Arie (Sopran)
Er segnet, die den Herrn fürchten, beide, Kleine und Große.

4. Duett (Tenor, Bass)
Der Herr segne euch je mehr und mehr, euch und eure Kinder.

5. Chor
Ihr seid die Gesegneten des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Amen.
Psalm 115,12-15

Liebe Motettengemeinde,
eine alte Frau und ein alter Mann, 102 und 103 Jahre alt, kommen zum Scheidungsrichter. Der ist entsetzt: „Warum in aller Welt wollen Sie sich in Ihrem Alter noch scheiden lassen?" Darauf die Frau: „Wissen Sie, wir haben schon länger darüber nachgedacht. Aber wir wollten damit noch warten, bis die Kinder tot sind."

Na, ich habe schon überlegt, ob ich Ihnen diesen Witz erzählen soll. Aber: Er passt schon zu der Kantate, die wir gleich hören. Vielleicht wurde sie aus Anlass einer Hochzeit komponiert, der Trauung des Pfarrers Johann Lorenz Stuber, der seinerzeit Bach selbst mit seiner ersten Frau Maria Barbara verehelichte und dann selbst in Bachs Familie einheiratete. Wenn es so sein sollte, kann man auch im zugrundeliegenden biblischen Text von Psalm 115 die Themen entdecken, die in der Ehe eine Rolle spielen: Dass sie auf Dauer angelegt ist, in Verantwortung füreinander und eben auch für die Menschenkinder, die daraus hervorgehen - und auch das, wie in diesem Witz, ein Leben lang.

Die Frage ist nur, was Menschen dabei hilft, das auch leben zu können - und da wird's in diesem Witz ganz ernst: Ist es die Form, die äußere Ordnung? Oder ist es nicht vielmehr das, was Psalm 115 anspricht, der von Bach gewählte Text: Der Segen Gottes, der sich auf alle Lebensbereiche des vertrauten Paares auswirken möge. Nach diesen Worten ist es der Segen, der das Paar gedeihen lässt - und nicht die Ordnung an sich. Sie kann helfen und ist darin nicht zu unterschätzen, das zu schützen, was aber allein der Segen vermag: dass es wohl gedeihe in einer Verbindung zwischen zwei Menschen, die einander bekennen, Verantwortung füreinander zu übernehmen in guten wie in schweren Zeiten.

Das ist ein hehres Ziel, immer wieder bekennen Menschen sich dazu, das zu wollen. Aber ob wir es auch immer erfüllen können, das steht auf einem andern Blatt. Ehen dauern heute länger als zu biblischen und auch länger als zu Bachs Zeiten. Es ist eine große Herausforderung 40,50 oder mehr Lebensjahre zu gestalten und immer wieder neu an der Erfüllung zu arbeiten. Nicht mal theoretisch kam es zu Ausgangssituation des Eingangswitzes. Näher war der Gedanke, von dieser Ordnung auch einmal erlöst zu sein. Neulich sagte mir eine Frau: "Mein Mann und ich sind so dankbar, dass wir den 50. Hochzeitstag erreicht haben. Wissen Sie, an Scheidung habe ich nie gedacht - aber an Mord schon..."

Was anderes zeigt das als etwas ganz Menschliches: Mit dem Trauversprechen sind wir vielleicht schon in dem Moment, wo wir es einander geben, überfordert. Umso mehr, als sich Traumhochzeitsformate als Vorbild etabliert haben, wo alles romantisch und von unserer Liebe getragen zugeht, und dadurch unzerstörbar wird. Aber wir wissen trotzdem: Es ist nicht so, wir können das nicht machen, wir können es schlicht nicht aus eigener Kraft. Und da wird Psalm 115, der dieser Kantate zugrunde liegt, zu einem wichtigen Text. Er benennt den grundlegenden Unterschied zwischen Himmel und Erde - und wie schnell wir bereit sind, den von uns selbst geschaffenen Götzenbildern zu huldigen. Dieser Text sollte uns davor bewahren, menschliche und weltliche Institutionen religiös zu überhöhen. Halt und Hilfe in den menschlichen Beziehungen, die wir auf Lebenszeit eingehen, ist der Segen Gottes, der uns trägt. Mit den Versen der Kantate gesprochen: dass Gott an uns denkt. Dass Gott sich an uns erinnert. Dass er uns ansieht - selbst dort, wo wir uns verloren fühlen oder versagt haben.

Der Segen Gottes ist immer beides: Verheißung und Hoffnung. Er ist die Verheißung des neuen Himmels und der neuen Erde - und schenkt einem die Hoffnung darauf, dass dies uns auch dann zukommt, wenn wir an den Bedingungen der jetzigen alten Erde, an uns selbst und auch an Institutionen wie der Ehe scheitern sollten. Keine äußere Form, sondern Gottes Segen ermöglicht nach dieser Kantate all das, wofür wir einstehen, aber woran wir auch oft scheitern: Liebe, Versöhnung, Barmherzigkeit. Amen.

Gebet
Unser Gott, du hörst nicht auf an uns zu denken, du siehst uns. Du erinnerst dich an uns. Du hilfst uns Menschen mit dem Segen des Himmels. Wir bitten dich für alle, die in ihren Partnerschaften und Beziehungen glücklich leben, dass Du sie darin stärkst und begleitest. Und wir bitten Dich für alle, die daran gescheitert sind und schmerzvolle Trennungen hinter sich haben. Unser Leben an den guten wie an den schweren Tagen steht in Deiner Hand. Segne es, darum bitten wir Dich mit den Worten Jesu Christi:
Vaterunser...

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org