Motettenansprache

  • 10.06.2023
  • Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle

Ansprache zur Motette, Thomaskirche, 10. Juni 2023

BWV 148 „Bringet dem Herrn Ehre seines Namens“

 

Prof. Andreas Schüle

Liebe Gemeinde,

was wir gleich hören werden, ist eine Kantate, die uns nicht nur die ganze Bandbreite der Stimmungen und Klangfarben Bach’scher Kompositionskunst vorführt, sondern die zugleich eine kleine Einführung in die Glaubenswelt des Barockzeitalters ist.

 

Die Kantate beginnt mit einem heiter gestimmten Chor, der zum Lob Gottes aufruft „Bringet dem Herrn Ehre seines Namens“. Es ist der Sabbattag, Gott ist in seinem Tempel, warum sollte man nicht fröhlich und ausgelassen sein! Die Sorgen des Alltags sind hinter dem Horizont verschwunden. Es ist ein schöner Tag. Gott loben, das ist im Zeitalter des Barock nicht bloß eine fromme Übung, sondern ein Lebensgefühl. Nach Kriegen und großen Entbehrungen der ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts kann man die Sehnsucht mit Händen greifen, endlich wieder etwas von der lang entbehrten Lebensfreude und Lebenslust zu spüren.

 

Wer Gott loben kann, ist mit sich selbst im Reinen. Das Gotteslob ist immer auch Spiegelbild der eigenen Seelengestimmtheit. Gotteslob geschieht dann, wenn die Freude im Inneren überfließt und nach außen dringen will. Wer hat das nicht schon erlebt: Wenn einen etwas wirklich mit Glück und Freude erfüllt, dann will man das teilen, will es am liebsten in die Welt hinausschreien. Genau dieses ‚in die Welt hinausschreien‘ ist Gotteslob, und so lässt Bach es auch klingen – mit vollem Orchester und konzertierender Trompete.

 

Vielleicht sind wir, liebe Gemeinde, von diesem barocken Lebensgefühl gar nicht so weit weg.  Irgendwie scheinen wir gerade wieder etwas Luft zu bekommen. Endlich mal keine Katastrophenmeldungen – zumindest keine neuen. Und vielleicht haben wir ja Glück, und es wird ein unbeschwerter Sommer mit Wärme auf der Haut und Zeit zum Durchatmen mit den Menschen, die einem wichtig sind. In der Diktion des Barocks: Zeit zum Gotteslob.

 

Die dem Eingangschor folgende Tenorarie führt diese fröhliche Gestimmtheit weiter: „Ich eile die Lehre des Lebens zu hören.“ Das ist nicht nur ein schöner, poetischer Titel – diese Arie hat es wirklich eilig  – keine ganz leichte Aufgabe für die Tenorstimme:

 

Ich eile, die Lehren
Des Lebens zu hören
Und suche mit Freuden das heilige Haus.
    Wie rufen so schöne
    Das frohe Getöne
    Zum Lobe des Höchsten die Seligen aus!

 

Singstimme und Solovioline liefern sich geradezu ein Wettrennen darum, wer zuerst ankommt, wer sie zuerst hören darf – die Lehren des Lebens.

 

Aber dann nimmt die Kantate eine Wendung. Ging es gerade noch darum, Gott in seinem Tempel zu finden, so entdeckt das folgende Rezitativ einen anderen Ort, an dem Gott gegenwärtig ist. Dahin muss man nicht eilen, nicht laufen, sondern diesen Ort muss man finden – und zwar im eigenen Selbst, tief drin in mir und in Dir.

 

Da preis ich deine Macht
In der Gemeinde der Gerechten.
O! wenn die Kinder dieser Nacht
Die Lieblichkeit bedächten,
Denn Gott wohnt selbst in mir.

 

„Denn Gott wohnt selbst in mir“ – mit dieser Wendung zum inneren Menschen wird die Musik ruhiger, meditativer. Bach setzt die Oboe ein – sein bevorzugtes Instrument, wenn es um die Geheimnisse der Seele geht. Alle Sehnsucht des Menschen richtet sich nun darauf, dass Gott nicht irgendwo da draußen ist, sondern da drinnen im Herzen und dort Wohnung nimmt.

 

Ich erinnere mich an ein Gebet, das meine Großmutter vor dem Schlafengehen oft mit mir gebetet hat. Vielleicht kennen Sie es ja auch. Es sind zwei ganz schlichte Zeilen:

 

Ich bin klein, mein Herz ist rein,

soll niemand drin wohnen als Jesus allein.

 

Ich habe mich als kleiner Bub dann immer gefragt, wie denn der Herr Jesus da hineinkommt in das Herz. Nun, in unserer Kantate klingt das viel elaborierter, aber die Aussage ist doch die gleiche:

 

Mund und Herze steht dir offen,
Höchster, senke dich hinein!
    Ich in dich, und du in mich;
    Glaube, Liebe, Dulden, Hoffen
    Soll mein Ruhebette sein.

 

Dieser Gedanke, dass Gott im Menschen Wohnung nimmt, stammt schon aus der mittelalterlichen Mystik. Damit gab man der Überzeugung Ausdruck, dass Menschen über das rein Physische hinaus erst durch dieses Einwohnen Gottes zu Wesen mit geistiger Tiefe, Höhe und Weite werden. Menschen sind dazu bestimmt, Gefäße des göttlichen Lebens zu sein. Und dessen gilt es, sich bewusst zu werden: durch innere Einkehr und eine kontemplative Lebensführung. Für das Mittelalter ging es darum, dass Menschen die Mitte finden, die sie nicht selbst sein können – sondern die Gott ist. Aber wenn das gelingt, wenn Gott einmal im Herzen wohnt, dann entkrampft sich ein Leben, dann kommt es zur Ruhe.

 

Das Barock wird greift dieses Bild des Menschen auf und führt es weiter. Nun geht es darum, dass wir durch diese Einwohnung Gottes nicht nur innerliche Einkehr finden, sondern zu tätigen, gut lebenden und gut handelnden Wesen werden. Das Göttliche im Inneren strahlt als Liebe und Güte, als Demut und Bescheidenheit, aber auch Kreativität und Schaffenswille nach außen. Dafür braucht es ein neues Bild. Für das Barock ist der Mensch nicht mehr Gefäß, sondern eher ein Kristallprisma, in das das göttliche Licht eindringt und sich dann in vielfältigen Farben nach außen bricht.

 

Was machen wir nun mit dieser Theologie, die uns in dieser Kantate aus vergangener Zeit entgegenklingt? Menschen unserer Zeit verstehen sich weder als Gefäß des Göttlichen noch als Prisma, in dem sich das göttliche Licht bricht. Menschen unserer Zeit sind kleine Kraftwerke geworden, die alles aus sich selber ziehen müssen: alle Energie, alle Motivation, alle Gewissheit, allen Lebenssinn. Jeder und jede ist sich selbst Anfang, Mitte und Ende – und kann das auch stemmen. So hat sich der moderne Mensch jedenfalls verstanden und lange Zeit auch selbst gefeiert. Aber vielleicht leben wir gerade in einer Zeit, in der sich das ändert und in der da Kraftwerk-Modell des Menschen an seine Grenzen gekommen ist. Es mehren sich die Zweifel, dass wir tatsächlich dafür gemacht sind, uns immer und überall Mitte, Ziel und Ende zu sein. Wenn man sich heute umschaut, fragen sich viele Menschen, ob es nicht auch anders geht, ob das Leben als Kraftwerk wirklich der Weg ist, ohne irgendwann auszubrennen. Vielleicht ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, ob wir nicht etwas verloren haben, was man zu anderen Zeiten schon einmal begriffen hatte. Und vielleicht gehört dazu ja der Gedanken, dass Gott nicht eine fremde Realität da draußen ist, sondern die Mitte, aus der wir leben. Für das Barock war das vor allem ein tröstlicher Gedanke, weil diese Mitte bleibt, auch dann, wenn unsere Kräfte vergehen. Das bringt uns noch einmal zurück zu unserer Kantate, die gegen Schluss das Lebensganze in den Blick nimmt und die Hoffnung darauf riskiert, dass der Mensch mit Gott als Mitte auch etwas Bleibendes hat. Da heißt es:

 

Bleib auch, mein Gott, in mir
Und gib mir deinen Geist,
Der mich nach deinem Wort regiere,
Dass ich so einen Wandel führe,
Der dir gefällig heißt,
Damit ich nach der Zeit
In deiner Herrlichkeit,
Mein lieber Gott, mit dir
Den großen Sabbat möge halten.

 

Liebe Gemeinde, kein Weg führt einfach zurück zu den Ideen, Gedanken und Träumen einer vergangenen Zeit. Das ist nicht unsere Sprache. Aber indem sie Musik wird, kommt sie uns doch näher und hilft uns vielleicht dabei, unsere eigenen Worte und Bilder dafür zu finden, was es denn heißen könnte, mit Gott den großen Sabbat zu halten. Also hören wir hin!

 

Amen.