Motettenansprache

  • 31.08.2018
  • Pfarrerin Taddiken

Motette am 31. August 2018

Johann Sebastian Bach
„Der Gerechte kömmt um", Motette für fünfstimmigen Chor und Orchester (Basso continuo)

Der Gerechte kömmt um, und niemand ist, der es zu Herzen nehme; und heilige Leute werden aufgerafft, und niemand achtet drauf. Denn die Gerechten werden weggerafft vor dem Unglück; und die richtig vor sich gewandelt haben, kommen zum Friede und ruhen in ihren Kammern. (Jesaja 57,1-2)

Liebe Gemeinde,
aus dem Buch des Propheten Jesaja, Kapitel 56, mehrere Jahrhunderte vor Christus:
„Alle Wächter des Volkes sind blind, sie wissen alle nichts. Stumme Hunde sind sie, die nicht bellen können, sie sind faul, liegen und schlafen gerne. Aber es sind gierige Hunde, die nie satt werden können. Das sind die Hirten, die keinen Verstand haben: ein jeder sieht auf seinen Weg, alle sind auf ihren Gewinn aus: Kommt her, ich will Wein holen, wir wollen uns vollsaufen, und es soll morgen sein wie heute und noch viel herrlicher."

Das sind Worte aus der Bibel und keine Pöbelei gegen Politiker unserer Tage, wie man sie im Gebrüll einer Pegida- oder Pro-Chemnitz-Demonstration hören und auf Pappschilder gekritzelt lesen kann, wo sich der pure Hass bahnbricht, der auch noch das letzte vorhandene Minimum an Anstand überrollt. Nein, es sind kritische Worte eines Propheten im Namen Gottes an die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft in ihrer Zeit. Was wird ihnen konkret zur Last gelegt? Es ist genau das, was in der eben gehörten Motette erklungen ist:
„Der Gerechte kömmt um, und niemand ist, der es zu Herzen nehme; und heilige Leute werden aufgerafft, und niemand achtet drauf. Denn die Gerechten werden weggerafft durch die Bosheit; und die richtig vor sich gewandelt haben, kommen zum Friede und ruhen in ihren Kammern." (Jesaja 57,1-2)

Der Vorwurf lautet: Ihr Regierende kümmert Euch nicht um das, was bei Euch los ist. Dass Unschuldige umkommen, aufgerafft, wir würden sagen, hingerafft werden. Dass dem Volk offensichtlich seine Fähigkeit zu Mitgefühl abhandengekommen ist, so dass sie sich am Leid der Unschuldigen sogar noch ergötzen. Dass sich schlicht die Bosheit, zu der Menschen fähig sind, ungebremst Bahn bricht und Menschen in Verzweiflung und Angst stürzt. „Bosheit" ersetzt in der 2017-Übersetzung der Lutherbibel das Wort „Unglück", weil es eher das trifft, worum es hier geht. Konkret: Euch scheint es egal zu sein, wenn bei Euch der Mob wütet, wenn alle Werte von Recht und Gerechtigkeit den Bach runter gehen. Der Bosheit wird freier Lauf gelassen. Was hier bei Bach nach Trauermotette klingt, ist eigentlich eine kritische Abrechnung mit dem Verhalten einer Gesellschaft bzw. mit allen, die sich darin für deren Gestaltung und Entwicklung mit verantwortlich fühlen. Es ist Gott, der den „Gerechten" Ruhe und Frieden verschaffen muss, der ihnen gerecht wird, wo die Menschen es zu tun verweigern.

Wir stehen am Ende einer Woche, wo das alles sehr aktuell und konkret ist. Wo in Chemnitz rechte Gruppen ein furchtbares Verbrechen zum Anlass gemacht haben, Menschen durch die Straßen zu jagen und die aufgeheizte Stimmung noch mehr anzuheizen und sich ungehemmt über das geltende Recht und die Grundsätze demokratischer Verfassung hinwegzusetzen. Und natürlich ist neben dem Entsetzen darüber von nicht wenigen die Frage gestellt worden, ob die Tatsache, dass sich solche Gruppierungen besonders oft und besonders häufig in Sachsen aktiv zeigen, den politisch Verantwortlichen nicht auch anzulasten sei. Ob sie dieses Problem nicht ausreichend ernstgenommen, sondern allzu oft relativiert haben. Kann man alles fragen, auch, ob sie sich solche Kritik im Stile eines Jesajas nicht auch zu Herzen nehmen müsste.

Aber: So sehr auch diese Kritik auf einzelne zu zielen scheint, will sie doch allen zu denken geben. Die Ereignisse in Chemnitz sind deshalb nicht zu verharmlosen, weil Sie ganz offensichtlich gewalttätiger Ausdruck einer Grundstimmung vor Ort sind, ganzer Städte. Es waren eben nicht nur die Radikalen unterwegs, sondern es haben sich reichlich Leute auch daneben gestellt bzw. sich einer Demonstration angeschlossen, in der offen der Hitlergruß gezeigt wurde, es war zumindest unzweifelhaft erkennbar, wer da am Werke war. Was auch immer ihr Beweggrund dafür sein mag, das zu tolerieren, ihr Gefühl, nicht gewürdigt, nicht gehört zu sein, ihre Angst vor dem zu schlecht Wegkommen, die sie auf andere projizieren, ihre Unzufriedenheit mit sich selbst oder was auch immer - wer mitläuft, macht sich auch mit verantwortlich. Letztlich geht es bei prophetischer Kritik an den Verantwortlichen immer um deren Würdigung: Ihr seid verantwortlich. Ihr seid von Gott betrachtet, ein verantwortliches Gegenüber, denn ihr seid befähigt mit Verstand und Herz, mit der Fähigkeit, auch eigenes Verhalten zu reflektieren und zu entscheiden, wovon ihr euch in eurem Leben denn leiten lassen wollt. Wenn ich mich für die dumpfen Gefühle, die in mir sind, entscheide, ist das möglich. Die Propheten erlauben sich aber, auf die destruktiven Folgen hinzuweisen, wie hier: Denn da kommt nicht nur der Gerechte um, sondern die Gerechtigkeit selbst. Die Fähigkeit, aufeinander zu achten, gerät unter die Räder der Gleichgültigkeit und kalter Abgrenzung. Das ist kein nur sächsisches Problem. Sondern eines der Menschheit überhaupt und aller Zeiten, dass das passieren kann und leider immer wieder passiert: dass Menschen bzw. menschliches Zusammenlebens daran leidet, dass die Bosheit es hinwegrafft. Es ist an uns, dem etwas entgegenzusetzen.

Gebet
Unser Gott, wir bitten Dich: Wehre aller menschlichen Bosheit und Fähigkeit zur Gewalt. Schenke uns Frieden mit uns selbst, dem anderen, dem Fremden. Schenke uns gute Kräfte, unser Zusammenleben miteinander zu gestalten in guten wie in schweren Tagen. Gib uns Anteil an Deiner Liebe zu uns Menschen, die in sich in Deinem Sohn Jesus Christus offenbart hat. Und gib uns Anteil an Deinem Geist, der Leben schafft und erhält. So beten wir mit Jesu Worten: Vaterunser...

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org