Motettenansprache zur Kantate BWV 125 

  • 01.02.2025
  • Pfarrerin i.R. Britta Taddiken

PDF zur Motettenansprache HIER


„Mit Fried und Freud ich fahr dahin“
Festmotette aus Anlass des 125. Jubiläums der Neuen Bachgesellschaft

Biblischer Bezug: Lukas 2, 22-35 


22 Und als die Tage ihrer Reinigung nach dem Gesetz des Mose um waren, brachten sie ihn hinauf nach Jerusalem, um ihn dem Herrn darzustellen, 23 wie geschrieben steht im Gesetz des Herrn: »Alles Männliche, das zuerst den Mutterschoß durchbricht, soll dem Herrn geheiligt heißen«, 24 und um das Opfer darzubringen, wie es gesagt ist im Gesetz des Herrn: »ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben« Und siehe, ein Mensch war in Jerusalem mit Namen Simeon; und dieser Mensch war gerecht und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der Heilige Geist war auf ihm. 26 Und ihm war vom Heiligen Geist geweissagt worden, er sollte den Tod nicht sehen, er habe denn zuvor den Christus des Herrn gesehen. 27 Und er kam vom Geist geführt in den Tempel. Und als die Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten, um mit ihm zu tun, wie es Brauch ist nach dem Gesetz, 28 da nahm er ihn auf seine Arme und lobte Gott und sprach: gesungen 29 Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; 30 denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, 31 das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern, 32 ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zum Preis deines Volkes Israel. 

BWV 125         Mit Fried und Freud ich fahr dahin 
         
1. (Coro) 
Flauto traverso, Oboe, Violino I/II, Viola, Corno col Soprano, Continuo          Mit Fried und Freud ich fahr dahin
In Gottes Willen;
Getrost ist mir mein Herz und Sinn,
Sanft und stille;
Wie Gott mir verheißen hat,
Der Tod ist mein Schlaf geworden.
         
2. Aria A 
Flauto traverso, Oboe d'amore, Continuo          Ich will auch mit gebrochnen Augen
Nach dir, mein treuer Heiland, sehn.
    Wenngleich des Leibes Bau zerbricht,
    Doch fällt mein Herz und Hoffen nicht.
    Mein Jesus sieht auf mich im Sterben
    Und lässet mir kein Leid geschehn.
         
3. Recitativo e Choral B 
Violino I/II, Viola, Continuo          O Wunder, dass ein Herz
Vor der dem Fleisch verhassten Gruft und gar des Todes Schmerz
Sich nicht entsetzet!
Das macht Christus, wahr' Gottes Sohn,
Der treue Heiland,
Der auf dem Sterbebette schon
Mit Himmelssüßigkeit den Geist ergötzet,
Den du mich, Herr, hast sehen lahn,
Da in erfüllter Zeit ein Glaubensarm das Heil des Herrn umfinge;
Und machst bekannt
Von dem erhabnen Gott, dem Schöpfer aller Dinge
Dass er sei das Leben und Heil,
Der Menschen Trost und Teil,
Ihr Retter vom Verderben
Im Tod und auch im Sterben.
         
4. Aria (Duetto) T B 
Violino I/II, Continuo          Ein unbegreiflich Licht erfüllt den ganzen Kreis der Erden.
    Es schallet kräftig fort und fort
    Ein höchst erwünscht Verheißungswort:
    Wer glaubt, soll selig werden.
         
5. Recitativo A 
Continuo          O unerschöpfter Schatz der Güte,
So sich uns Menschen aufgetan: es wird der Welt,
So Zorn und Fluch auf sich geladen,
Ein Stuhl der Gnaden
Und Siegeszeichen aufgestellt,
Und jedes gläubige Gemüte
Wird in sein Gnadenreich geladen.
         
6. Choral 
Corno e Flauto traverso in octava e Oboe e Violino I col Soprano, Violino II coll' Alto, Viola col Tenore, Continuo          Er ist das Heil und selig Licht
Für die Heiden,
Zu erleuchten, die dich kennen nicht,
Und zu weiden.
Er ist deins Volks Israel
Der Preis, Ehr, Freud und Wonne.
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Besetzung         Soli: A T B, Coro: S A T B, Corno, Flauto traverso, Oboe, Oboe d'amore, Violino I/II, Viola, Continuo
Entstehungszeit         2. Februar 1725
Text         1,3,6: Martin Luther 1524; 2-5: Umdichtung eines unbekannten Bearbeiters
Anlass         Mariae Reinigung (2. Februar)


Liebe Motettengemeinde,
na sowas, zum 125. Geburtstag der Neuen Bach Gesellschaft erklingt gleich ausgerechnet die Kantate BWV 125! „Mit Fried und Freud ich fahr dahin“. Darin sollte man keine Anspielung auf das Schicksal dieser altehrwürdigen Einrichtung sehen. Denn nach wie vor macht sie sich Gedanken, wie man Bachs Werke pflegt und vor allem, wie sie von möglichst vielen gehört und - vor allem das – davon berührt werden. Das tun – Gottseidank – viele hier in Leipzig, Thomanerchor, Bach-Archiv, forum thomanum, Thomaskirche und und und, weil sie überzeugt sind: Man kann zwar ein Museum für Bach einrichten, aber seine Musik gehört nicht ins Museum, sie gehört ins Leben – in unser aller Leben. Das ist so, weil gerade in Bachs Kantaten alles vorkommt, was Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten dieser Welt anspricht. Alles, was uns so bewegt im Leben und auch im Sterben, alles kommt vor und zwar „wahrhaftig“. Vielleicht haben Sie im Dezember den Spielfilm über die Entstehung des Weihnachtsoratoriums gesehen. Da gibt es eine Szene, wo Bach sich dem Vorwurf der (natürlich nur) damaligen missgünstigen Leipziger Theologenschaft ausgesetzt sieht, seine Musik sei „eitel“. Nein, entgegnet Bach: Sie ist „wahrhaftig“. Die Wahrheit, die in dieser Szene steckt, liegt nicht auf der historischen Ebene. Seine Musik, sie ist wahrhaftig. Gerade in den Kantaten. Bach ist da immer selbst drin mit seinem Schmerz, mit all dem, was ihn weinen lässt. Vielleicht auch manchmal mit seiner Wut, aber auf jeden Fall mit dem, was er hofft. Und was er glaubt. Ich denke: Deshalb kann sie uns in einer Tiefe ansprechen, wie kaum etwas anderes, in jedem, woher er auch kommt, was und ob er irgendetwas glaubt. Wir erleben das hier in den wöchentlichen Kantatenaufführungen, wir erleben es in den Bachfesten: Menschen aus verschiedensten Kulturen werden gemeinsam in ihren tiefsten menschlichen Schichten berührt. Was sie zusammen weinen lässt und lachen. Und auf- und neu ausrichtet. Es ist nicht egal für unsere Welt, für unsere Gesellschaft und für sehr viele von uns, ob diese Musik öffentlich erklingt oder nicht. 

Diese heutige Kantate „Mit Fried und Freud“, die morgen vor 300 Jahren uraufgeführt worden ist, ist dafür ein besonderes Beispiel. Und ich empfinde sie gerade für unsere Zeit hilfreich, in der es vielen schwerfällt, den inneren Kompass für ihr Leben zu halten. Und zwar auch und gerade dann, wenn das, was bisher gewiss war, kräftig durchgeschüttelt wird. Oder wo sich eben leider zeigt, dass viele irgendwie keinen funktionstüchtigen inneren Kompass haben. Und geneigt sind, sich darum denjenigen mit den einfachen Wahrheiten anzuvertrauen. Denn sie versprechen ihnen diesen Halt. Aber das ist ein Irrglaube! Keine Politik, keine Regierung welcher Couleur auch immer kann für diese innere Gewissheit sorgen. Es ist ja auch nicht ihre Aufgabe – sie hat vielmehr für die äußeren Bedingungen zu sorgen, wo es für alle möglich ist, an diesen inneren Kompassen zu arbeiten, sie zu pflegen und ihrer Ausrichtung gemäß leben zu können. Das müssen wir dann schon selbst tun. Auf dass wir eben nicht im entscheidenden Moment vom Bauchgefühl getrieben mit dem Kopf durch die Wand wollen ohne nach links und rechts zu schauen…

Und so ist die heutige Kantate ist eine Anregung für eine Gesellschaft, der vielleicht nichts so sehr fehlt wie die Fähigkeit, uns wirkliche Alternativen zum dem vorzustellen, wie es jetzt so ist bzw. wie wir es empfinden. Etwas in sich zu haben an innerer Lebens-Gewissheit, die mich als einzelnen so trägt, dass ich trotz aller Widrigkeiten leben kann mit Fried und sogar Freud! Bach führt uns hier einen Menschen vor Augen und Ohren, der das hatte, diese Fähigkeit. Der alte Mann Simeon, wir haben eben von ihm gehört. Er wusste, wovon er wirklich lebt und was ihn am Leben hält: dass da einer kommt, der sein Leben vollenden wird und allem darin Sinn gibt, auch dem, was geschmerzt und ihn traurig gemacht hat. Und so kommt er in den Jerusalemer Tempel, als die Eltern mit dem neugeborenen Jesus am 40. Tag nach der Geburt dort sind, um das nach einer Geburt vorgeschriebene Reinigungsopfer darzubringen und den erstgeborenen Sohn rituell auszulösen. Ein Bild hier vorne in Thomaskirche zeigt diese Szene. Aber Simeon sieht dort nicht nur, was er hofft. Er kommt mit dem in Berührung, was er hofft, ganz nah, zärtlich. Nimmt das Kind auf die Arme. Und ist zugleich berührt von ihm. Er erkennt: Wie in jedem Kind ein neues Leben beginnt, beginnt in diesem Kind etwas Neues für ihn und diese Welt. Selbst der Tod wird vom letzten Feind des Menschen zu seinem „Schlaf“ – also zu etwas, was ihn erfrischt wieder aufstehen lässt. So heißt es am Ende des ersten Satzes der Kantate. Simeon erfährt: Nichts muss bleiben, wie es ist oder wie es zu sein scheint. Noch nicht einmal der Tod, er wird für Simeon zum Durchgang in ein neues Leben. 

Aber diese Erkenntnis fällt nicht vom Himmel. Wie schmerzvoll es sein kann, zu ihr zu gelangen – das führt uns die erste Arie vor Augen. Bach gibt uns die Möglichkeit, uns selbst an die Stelle des Simeons zu setzen. Und vielleicht ist Bach da auch selbst drin. Ich höre da jedenfalls Musik und Wort von größter Wahrhaftigkeit, den Schmerz und die Zuversicht zugleich in dem, wie sich Querflöte und Oboe d’amore einander und mit der Altstimme durchdringen. Wie sich die Töne der Hoffnung reiben an der Realität, wie sehr sie durchgehalten werden wollen in all dem, was auf sie einwirkt. Wie großartig ist das harmonisch hier dargestellt. Und ich zumindest höre Johann Sebastian und seine Anna-Magdalena in diesen beiden Instrumentalstimmen. Ich höre ihre und die aller verwaisten Eltern Trauer um ihre gestorbenen Kinder. Ich höre den Schmerz aller Menschen darüber, wie sich der Tod immer wieder hineinschiebt in ihr Leben und die Gefahr real ist, die Hoffnung zu verlieren - wird es denn nie besser? 

Es sind die Fragen, die Nöte aller Generationen. Es sind auch unsere Nöte, Schmerzen und Ängste, die Bach da in Wort und Musik legt. Aber da ist vor allem auch das und macht sich musikalisch bereits Bahn, was ein in all dem tragen kann, was Simeon hatte und auch Bach, was sie wieder auf das große Ganze schauen lässt: „Wenngleich des Leibes Bau zerbricht, doch fällt mein Herz und Hoffen nicht.“ In dieser Haltung konnten sie und können wir Simeon-Menschen bis heute zuleben: dass Gott Neues bereit hat, dass er noch etwas vorhat mit dieser Welt und mit mir persönlich. Und dass er uns aus allem herausführen wird, worauf der Tod seinen letzten Anspruch erheben will – so wie er es an diesem Kind getan hat als erwachsenem Mann am Kreuz. Das ist der Grund für das im folgenden Bassrezitativ besungene Wunder, „dass ein Herz vor der dem Fleisch verhassten Gruft und gar des Todes Schmerz sich nicht entsetzet“. Die ganze Kantate lässt einen vom Eingangschor an etwas von diesem inneren Frieden und dieser inneren Gelassenheit spüren, mit der der alte Simeon gesegnet war. Und so ist er eine der sprechendsten Gestalten für das, wovon christlicher Glaube immer lebt: von der radikalen Hoffnung auf den neuen Anfang bzw. darauf alles in diesem Leben und auf dieser Welt wandeln kann. Wo alles am Ende zu sein scheint - es scheint eben nur so. Aber es ist es nie. Das tief im Herzen tragen zu können, das ist mit das Wichtigste im Leben. Einer, der das sehr markant zusammengefasst, war der Arzt und Psychoanalytiker Viktor Frankl. Er gehörte zu denjenigen, die vor genau 80 Jahren aus dem Konzentrationslager Ausschwitz befreit wurden. Er sagt, er habe diese Hölle als Jugendlicher nur deswegen überlebt, weil er etwas beobachtet hatte um sich herum. Diejenigen, die sofort resigniert hatten angesichts des Grauens - sie hatten überhaupt keine Überlebenschance. Er hatte daraufhin beschlossen, sich von nichts und niemandem brechen zu lassen. „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Auf diese Formel hat er das dann später gebracht. Und starb 1997 im Alter von 92 Jahren, nachdem er Hunderten oder gar Tausenden dabei geholfen hatte, ihr „Warum zu leben“ zu finden, es in Worte zu fassen und zu leben. Frankl - auch ein Simeon. 

Habe ich ein „Warum zu leben“, das mich stark macht, widerstandsfähig, das mir hilft gegen alle Ängste zu leben? Simeon hatte es. Bach – glaube ich – auch. Bei ihnen war es das, was durch das Kind und den Mann Jesus in die Welt gekommen ist. Fast am Ende der Kantate wird dieses „Warum zu Leben“ regelrecht gefeiert. Tenor und Bass begeben sich in einen fröhlichen Wettstreit, dieses „unbegreiflich Licht“ zu besingen, das den ganzen Kreis der Erden erfüllt. Sie tun es jetzt mit einer ungebrochenen Lebensfreude, die die beiden klagenden Instrumentalstimmen aus der ersten Arie ergänzt. Sie wird uns berühren, sie wird gleich etwas in uns zum Schwingen bringen, die Feier unseres Lebens in dieser Kantate, mitten hinein in unseren Schmerz, in unsere Traurigkeit, in das, was uns verunsichert aber auch in das, was uns zuversichtlich sein lässt und was unsere Hoffnung nährt. Möge uns das stärker machen zum Guten!

Gebet 
Unser Gott, wir möchten Dir danken für die Kraft, die Du uns immer wieder schenkst in Momenten, wo wir uns hilflos fühlen, ausgelaugt, überfordert. Bitte bleibe mit Deinem Geist bei uns jeden Tag von Neuem. Stärke in uns die Hoffnung und das Vertrauen, dass die Dinge sich ändern können, die uns jetzt verzagen lassen wollen. Schenk uns die Gewissheit des Simeon, dass wir sehen werden, lernen und verstehen: Du hast mit uns noch etwas vor. Mit jedem und jeder einzelnen von uns und mit allen, mit denen wir uns verbunden wissen in nah und fern. Mit Jesu Worten beten wir:

Vaterunser….

Britta Taddiken