Motettenansprache

  • 18.08.2018
  • Pfarrerin Taddiken

Motette am 18. August 2018

Johann Sebastian Bach, Siehe zu, daß deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sei Kantate BWV 179 zum elften Sonntag nach Trinitatis

1. CHORUS Siehe zu, daß deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sei, und diene Gott nicht mit falschem Herzen!

2. RECITATIVO (TENORE) Das heutge Christentum ist leider schlecht bestellt: Die meisten Christen in der Welt sind laulichte Laodizäer und aufgeblasne Pharisäer, die sich von außen fromm bezeigen und wie ein Schilf den Kopf zur Erde beugen; im Herzen aber steckt ein stolzer Eigenruhm. Sie gehen zwar in Gottes Haus und tun daselbst die äußerlichen Pflichten; macht aber dies wohl einen Christen aus? Nein! Heuchler könnens auch verrichten!

3. ARIA (TENORE) Falscher Heuchler Ebenbild können Sodomsäpfel heißen, die mit Unflat angefüllt und von außen herrlich gleißen. Heuchler, die von außen schön, können nicht vor Gott bestehn.

4. RECITATIVO (BASSO) Wer so von innen wie von außen ist, der heißt ein wahrer Christ. So war der Zöllner in dem Tempel: Der schlug in Demut an die Brust, er legte sich nicht selbst ein heilig Wesen bei; und diesen stelle dir, o Mensch, zum rühmlichen Exempel in deiner Buße für! Bist du kein Räuber, Ehebrecher, kein ungerechter Ehrenschwächer: Ach, bilde dir doch ja nicht ein, du seist deswegen engelrein! Bekenne Gott in Demut deine Sünden, so kannst du Gnad und Hülfe finden!

5. ARIA (SOPRANO) Liebster Gott, erbarme dich: Laß mir Trost und Gnad erscheinen! Meine Sünden kränken mich als ein Eiter in Gebeinen, hilf mir, Jesu, Gottes Lamm, ich versink in tiefen Schlamm!

6. CHORAL Ich armer Mensch, ich armer Sünder steh hier vor Gottes Angesicht. Ach Gott, ach Gott, verfahr gelinder und geh nicht mit mir ins Gericht! Erbarme dich, erbarme dich, Gott, mein Erbarmer, über mich!

Lukas 18,9-14
Er sagte aber zu einigen, die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis: 10 Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. 11 Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. 12 Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. 13 Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! 14 Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

 

Liebe Gemeinde,
das fängt ja gleich gut an nach der Motettenpause in der Kantate, die wir gleich hören. Eine saftige Moralpredigt barocker Art. Würden wir den Text ohne die Musik hören, würden sich die meisten von uns wahrscheinlich abwenden und nicht wenige sich in dem bestätigt sehen, was sie schon immer zu wissen meinen: Typisch Kirche, die reden einem erst mal die Sünde ein und können nicht anders als einen niederzumachen. So heißt es gleich nach dem Eingangschor im Tenorrezitativ: „Das heutge Christentum ist leider schlecht bestellt. Die meisten Christen in der Welt sind laulichte Laodizäer und aufgeblasne Pharisäer." Was sollen die neuen jungen Thomasser davon halten? Nun, ihr werdet diese Sprache zu deuten lernen, nach und nach, zusammen mit uns, die wir das schon länger versuchen und manchmal denken: Mensch, Johann Sebastian Bach, konntest Du wirklich keinen anderen Texter finden?

Nun, wir wissen es nicht, wir wissen nur, er hat ihn verwendet. Damit aber ist schon etwas gesagt, was wir erst einmal zur Kenntnis zu nehmen haben: Bach wollte das Thema offensichtlich ansprechen. Diese kritischen Töne sind in erster Linie selbstkritische Töne, sie sollen anregen, im Gottesdienst darüber nachzudenken, dafür sind sie geschrieben. Bach stellt sich damit in eine Reihe mit der jüdischen wie der christlichen Tradition: die kritischsten Töne kommen aus den eigenen Reihen. Nicht von außen. Wenn wir die Geschichte betrachten, die dieser Kantate zugrunde liegt, wird das mehr als deutlich.

Es ist im Grunde absolut lächerlich, worauf sich der Pharisäer in dieser Geschichte etwas einbildet: zweimal in der Woche fasten und ein Zehntel abgeben von dem, was man verdient. Er rühmt sich für etwas, was in seinen Kreisen selbstverständlich ist. Es müsste ihm eigentlich peinlich sein, darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Er scheint das Maß verloren zu haben für das, was sich von selbst versteht. Und so geht mit seinem Hochmut eines zugleich einher: Kleinlichkeit. Offenbar alles aufrechnen und berechnen zu müssen und das Gefühl zu haben, sich ständig bestätigen zu müssen: Ich bin doch gut. Wer kennt sie nicht, diese Flucht in die Selbstberuhigung oder alles auf die Verhältnisse zu schieben, die mich nun mal zwingen, mich so oder so zu verhalten.

Der Zöllner dagegen rechtfertigt nichts. Sein Gebet lautet: Gott, sei mir Sünder gnädig. Es ist kein Zufall, dass Jesus dem Pharisäer einen Zöllner gegenüber stellt. Gerade derjenige, der von Berufs wegen alles aufrechnen und kleinlich kontrollieren muss, tut es hier nicht. Ihm gelingt das rechte Maß in Bezug auf Gott. Es gibt nichts was ich Gott geben könnte, außer meiner Bereitschaft, unendlich viel von ihm zu nehmen. Er sucht keine Ausflüchte für sein Leben, wie es nun mal ist, er stellt sich ganz offensichtlich den Widersprüchen, in denen er lebt und der Versuchung, der er als Zöllner ständig ausgesetzt ist: mehr zu nehmen als geboten ist. So, wie wir es auch tun in unserer Zeit, wenn wir uns tagtäglich bedienen an unserem Überfluss, obwohl wir genau wissen, welche Folgen das hat für uns persönlich und für unsere Umwelt. Er ist derjenige, der sich dem stellt und der es zur Sprache bringt. Im Bassrezitativ der Kantate heißt es dazu: „Er legt sich nicht selbst ein heilig Wesen bei".

Dazu - und da dürfte sich in den letzten 2000 Jahren nichts geändert haben - neigt der Mensch allerdings. Dazu muss man sich nicht erst als den größten Präsidenten aller Zeiten ausrufen. „Ach, bilde dir doch ja nicht ein, du seist deswegen engelrein!", lässt Bach den Bass singen. Zu nichts anderem wird hier ermahnt als zur Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst. Der Dichter der Kantate findet drastische Worte für das, was der Zöllner gegenüber dem Pharisäer erkennt: Das sitzt in uns wie eine eitrige Wunde bzw. es lässt uns in tiefen Schlamm versinken. Diesen Schmerz scheint er zu spüren und erkennt, was allein ihn weiterbringt: nicht die Heuchelei, es sei gar nicht so schlimm. Und nicht der Versuch, mit seinen Unzulänglichkeiten faulen Frieden zu schließen oder sie mit den guten Taten und Verfehlungen anderer zu verrechnen. Er begreift: Ihn bringt allein die Bitte weiter, davon erlöst zu werden. „Liebster Gott, erbarme dich", lässt Bach den Sopran am Ende singen und der Chor stimmt in dieses Bekenntnis ein.

Was anderes also mögen Bach und sein Dichter damit bezweckt haben, als ihren Hörern Mut zu machen, sich zumindest und gerade in der Kirche bzw. im Gottesdienst angstfrei und offen mit ihren Selbstrechtfertigungen auseinanderzusetzen? Die Musik, die Bach für diese Worte gefunden hat, lädt dazu ein und baut uns dafür eine Brücke.

Wir beten:
Unser Gott, lass nicht zu, dass wir uns verstellen - selbst vor Dir. Lass dich nicht täuschen durch die Fassaden, die wir um uns aufbauen unter grandiosen Gesten. Lass nicht zu, dass wir uns selbst betrügen. Und schenke uns etwas von der Klarheit, mit der du auf uns blickst.Vaterunser...

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org