Motettenansprache

  • 23.06.2018
  • Pfarrerin Taddiken

Motette am Samstag 23. Juni 2018

Liebe Gemeinde,
sie ist kinderleicht zu verstehen: Die sogenannte „goldene Regel" Jesu aus der Bergpredigt: Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch. (Matthäus 7,12) Oder anders gesagt: Behandelt die anderen Menschen so, wie ihr selbst von ihnen behandelt werden wollt. Was dann später Immanuel Kant als kategorischen Imperativ formuliert hat, erschließt sich bereits Kindern als sinnvoll, wenn wir alle miteinander einigermaßen auskommen wollen.

Ich erinnere mich, dass wir vor ein paar Jahren im Religionsunterricht der dritten Klasse über diesen Satz diskutiert haben: den anderen so behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Wie können wir das umsetzen - und wie wäre es denn eigentlich, wenn sich tatsächlich alle Menschen daran halten würden? Und da sagt auf einmal ein neunjähriges Mädchen - und zwar ziemlich wortwörtlich: „Wenn das passieren würde - dann wäre der Mensch nicht mehr der Mensch. Denn der Mensch will ja immer der beste sein und betrügt die anderen deshalb."

Mit einer solch philosophisch-nüchternen Einschätzung des Menschen hatte ich in der dritten Klasse eigentlich noch nicht gerechnet. Aber auf der anderen Seite: Natürlich bekommen neunjährige Kinder da ja einiges schon mit. Vor allem, wenn sich die Eltern zuhause ganz und gar nicht so behandeln, wie sie es sich für sich selbst wünschen würden. Und natürlich verstehen auch Kinder ab einem gewissen Alter ihr eigenes Verhalten zu reflektieren und merken: Es scheint zur Natur des Menschen zu gehören, Dinge so anzugehen und zu betrachten, dass sie einem erst einmal zum eigenen Vorteil gereichen. So kommt es dann zur nüchternen wie realistischen Einschätzung auch Neunjähriger: Der Mensch kann das offenbar nicht wirklich umfassend - den anderen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Es gelingt ihm - aber nur mit Abstrichen.

Damit waren wir in unserer kleinen Diskussion in der Schule an dem Punkt angelangt, der auch in der Motette von Johann Sebastian Bach im Mittelpunkt steht, die wir gleich noch hören werden: „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf", Sie finden den Text auf S. 5 oben. Wir hören diese Motette hier in der Thomaskirche vom Thomanerchor oft und immer wieder. Und das ist auch gut und wichtig so, weil uns gerade dieses Thema immer wieder aktuell bewegt bei allem, was gerade so los ist in unserer Welt. Für Bach ist mit der Auswahl dieses biblischen Texts aus dem Römerbrief des Apostels Paulus klar: Damit der Mensch sein kann, wie er sein soll und tun kann, was er soll und nicht nur, was er will, bedarf er der Hilfe und der ständigen Erneuerung. Wie gehen wir um mit der Tatsache unserer Erfahrung, in der Regel mehr zu wollen, als wir zu vollbringen in der Lage sind? Man mag sich resigniert zurückziehen und sagen: Es bringt am Ende ja doch alles nichts. Rückzug in die Innerlichkeit, keine Beteiligung mehr an öffentlich relevanten Vorgängen. Paulus nennt das im Umfeld des Motettentexts „fleischlich": nur auf das hier und heute bezogen zu leben und innerlich sozusagen im „Istzustand" zu verharren. Paulus meint: so gesinnt zu sein - das ist der Tod. Das führt in den Tod der Beziehungslosigkeit zueinander und zu Gott. Schleichend geht das vor sich, kaum zu merken, schwächt uns dieses Verhalten massiv.

Paulus setzt dem etwas entgegen, was Bach in seiner Musik dann auch aufnimmt. Die Bewegung durch das erneuernde und belebende Wirken des Geistes Gottes, des Heiligen Geistes. Das wird vom ersten Takt der Motette an deutlich. Wenn wir am Ende unserer Möglichkeiten sind, dort, wo uns dann meistens auch die Worte fehlen und wir nicht mehr wissen, was wir beten oder sagen sollen, tritt er für uns ein. Er erneuert und ermutigt uns zu neuen Gedanken, Worten und Werken auf dem Weg, den wir als gut und richtig erkannt haben. Bach hat diese Motette, wie auch seine anderen, für Menschen geschrieben, die ganz konkret mit der Erfahrung von Tod und Ende einer Beziehung konfrontiert worden waren - er hat sie für eine Beerdigung geschrieben, um die Trauernden, die Verzweifelten, die in sich und ihren Gefühlen Gefangenen zu trösten und aufzurichten.

Spätestens hier, am Grab eines Menschen, wird uns ja immer wieder deutlich: Wir können Lebenskraft nicht aus uns selbst heraus schöpfen, sondern wir können um sie nur immer wieder bitten. Bitten, dass uns neue Kraft zukomme, nicht zu resignieren: nicht an unserem Versagen, unserer Widersprüchlichkeit und an den von uns als schmerzhaft empfundenen Begrenzungen unseres Lebens. Oder an dem, wie es das neunjährige Mädchen in der dritten Klasse formuliert hat: dass der Mensch doch immer nur der beste sein will und die anderen deshalb betrügt. Unsere Schwäche, sie hat, Gottseidank nicht das letzte Wort in diesem Leben und in unseren Beziehungen. Dieses letzte Wort hat der Geist, der unserer Schwachheit aufhilft. Mit seiner Hilfe mag es uns gelingen, dann auch das tun zu können, es wieder tun zu können, was wir sollen und ja auch wollen: einander so zu behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen. Amen.

Gebet
Unser Gott und Vater, wir bitten Dich um Deinen Heiligen Geist, der uns aufrichtet, der uns tröstet und der uns bereit macht zu einem Miteinander in Achtung und Wertschätzung. Wir bitten Dich, vergib Du uns, wo wir uns an unserem Nächsten in dieser Woche verfehlt haben. Wir bitten Dich um Kraft zur Versöhnung und zu neuen Anfängen. Wir bitten Dich für die, die schon resigniert haben und sich zurückgezogen haben in sich selbst. Schenke Du ihnen die Kraft Deines Heiligen Geistes, die sie erneuere und stärke. Und hilf Du uns allen dazu, das tun zu können, was Du uns als Deinen Willen hast erkennen lassen. Darum bitten wir Dich mit den Worten Jesu: Vaterunser...

Britta Taddiken, Pfarrerin der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org