Motettenansprache

  • 15.06.2018
  • Pfarrerin Taddiken

Motette Freitag 15. Juni 2018

Francis Poulenc (1899-1963)
Timor et tremor, FP 97 Nr. 1
Motette für vierstimmigen Chor
Timor et tremor venerunt super me,
et caligo cecidit super me,
misere mei, Domine, misere quoniam,
in te confidit anima mea.
Furcht und Zittern kamen über mich
und Finsternis überfiel mich,
erbarme dich meiner, Herr, erbarme dich,
denn meine Seele vertraut auf Dich.
nach Psalm 54
Exaudi, Deus, deprecationem meam,
quia refugium meum es tu et adjutor fortis, Domine.
Invocavi te non confundar.
Gott, erhöre mein Flehen,
denn du bist meine Zuflucht und mein starker Helfer, o Herr.
Ich rufe dich an und werde nicht verderben.
nach Psalm 30

Vinea mea electa, FP 97 Nr. 2
Motette für vierstimmigen Chor
Vinea mea electa, ego te plantavi:
Quomodo conversa es in amaritudinem,
ut me crucifigures et Barrabam dimitteres?
Mein erwählter Weinberg, ich habe dich gepflanzt:
Warum bist du bitter geworden,
dass du mich kreuzigst und Barrabas loslässt?
Sepivi te, et lapides elegi ex te,
et aedificavit turrim.
Ich umfriedete Dich und entfernte die Steine aus Dir
und erbaute einen Turm.
nach Jeremias 2, 21

Tenebrae factae sunt, FP 97 Nr. 3
Motette für vier- bis sechsstimmigen Chor
Tenebrae factae sunt, dum crucifixissent Jesum Judaei:
et circa horam nonam exclamavit Jesus voce magna:
Deus meus, ut quid me dereliquisti?
Et inclinato capite, emisit spiritum.
Finsternis brach ein, als die Juden Jesum kreuzigten.
Und in der neunten Stunde rief Jesus mit lauter Stimme:
Mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Und neigte das Haupt und sein Geist verließ ihn.
Exclamans Jesus voce magna, ait:
Pater, in manus tuas commendo spiritum meum.
Jesus rief mit lauter Stimme und sprach:
Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist.
nach Matthäus 27, 49 und Johannes 19, 30

Tristis est anima mea, FP 97 Nr. 4
Motette für Sopran und vier- bis sechsstimmigen Chor
Tristis est anima mea usque ad mortem:
sustinete hic, et vigilate mecum:
nunc videbitis turbam, quae circumdabit me.
Meine Seele ist betrübt bis an den Tod,
bleibt hier und wachet mit mir:
dann werdet ihr die Schar sehen, die mich umzingelt.
Vos fugam capietis,
et ego vadam immolari pro vobis.
Ihr werdet fliehen,
doch ich werde hingehen, mich für euch zu opfern.
Ecce appropinquat hora,
et filius hominis tradetur in manus peccatorum.
Sehet, die Stunde ist nahe
und der Menschensohn wird in die Hände der Sünder überantwortet.
nach Matthäus 26, 38. 56

Liebe Gemeinde,
sie sind großartig - die vier Motetten zur Passionszeit von Francis Poulenc, die wir gerade gehört haben. Als sie hier das letzte Mal in einer Motette gesungen wurden, kam danach ein jüngerer Mann zu mir. Er sprach mich auf die dritte der Motetten an, eine Vertonung des fünften Responsoriums aus der römisch-katholischen Karfreitagsliturgie. Er sei anlässlich der Buchmesse hier mit einem Freund aus Israel. Und er fühle sich mehr als befremdet, dass das hier in der Thomaskirche so unkommentiert gesungen würde: „Finsternis brach ein, als die Juden Jesum kreuzigten."

Natürlich könne man die Texte der Tradition nicht einfach ändern, aber es hätte schon etwas dazu gesagt werden sollen, so hätte es den Besucher aus Israel doch ziemlich irritiert. Nicht nur deshalb, weil es historisch gesehen die Römer gewesen seien - die Kreuzigung war eine römische Strafe, keine jüdische. Abgesehen davon, dass man nicht alles, was kommentiert werden könnte, kommentieren kann, hat er natürlich Recht - und nicht nur dieser Text aus der Tradition ist anstößig. Auch am Text der Johannespassion von Bach stoßen sich ja viele. Die Rückmeldung des Mannes war und ist gut und richtig, da sie uns zum einen anhält, überhaupt zu bedenken, was wir manchmal so dahinsagen oder es hinnehmen, wenn andere abfällig und abwertend über Menschen sprechen, insbesondere über Minderheiten.

Zum anderen hält es uns aber an, noch einmal genau hinzuschauen, was die Passionsgeschichten eigentlich bezwecken, wenn sie von „den Juden", von „dem Volk" oder einfach „denen, die dabeistanden" reden. Trotz aller Tendenzen, sich als im Entstehen befindendes Christentum vom Judentum abzugrenzen, geht es um etwas anderes als „den Juden" die Schuld am Tod Jesu in die Schuhe zu schieben, weil sie Juden sind. Vielmehr geht es darum, aufzuzeigen, wie die Menschen, so wie sie eben sind, dazu beigetragen haben, dass es zu dieser Kreuzigung gekommen ist und bis heute zu vielen, vielen Kreuzigungen anderer Art immer wieder kommt.

Wer bzw. was also begegnet uns den Passionsgeschichten? Zunächst eine Menge, die heute „Hosianna, Hilf doch" schreit und morgen „Kreuzige". Menschen, die sich nach dem gerade herrschenden politischen Wind drehen und sich anpassen, weil sie Nachteile fürchten. Menschen, die aus Angepasstheit oder Angst um die eigene Haut bereit sind, andere auszuliefern. Menschen, die sich aus dem Staub machen, wo es eigentlich gilt, dem Leidenden beizustehen und für seine Belange einzutreten. Menschen, die wie Petrus einknicken, wo sie die Konsequenzen ihres Handelns auf sich zukommen sehen und da schon sagen: Nein, so war das alles gar nicht gemeint. Und da sind die Gaffer und die, die von ferne zusehen und sich zu nichts verhalten: Lasst uns mal sehen, ob Elias kommt und ihm hilft - was habe ich damit zu tun...

Ich könnte noch mehr aufzählen. Alle diese Typen kommen vor in dieser Geschichte, Typen, in denen wir uns wiedererkennen können, völlig unabhängig davon, ob wir Christen oder keine Christen sind. Es geht um die Art und Weise, wie Menschen sind, weil sie Menschen sind - und nicht weil sie Juden, Muslime oder Christen sind oder sich selbst zu keiner Religion gehörig betrachten. Es ist da relativ egal, was wir sind. Es geht um den Menschen, der zulässt, dass der Schwache unterliegt, dass der Unschuldige leidet, dass der andere stirbt - und der sich sagt: Nur nicht ich - auch wenn es etwas kostet. Das ist der Punkt. Denn immer, wo das geschieht, bricht die Finsternis ein. Wo das geschieht, stirbt die Liebe. Wo das geschieht, wird die Unschuld gekreuzigt. Wo das geschieht, werden Menschen in das Gefühl der Gottverlassenheit getrieben. Von Christen, von Juden, von Muslimen und von anderen, die das vielleicht alles in ganz anderer Sprache und anderen Bildern ausdrücken würden als es die Evangelisten oder die liturgische Tradition tun.
Es geht um den Menschen, wie er ist - und das ist das Thema von Karfreitag und Ostern - um die Erlösung des Menschen aus dieser Verstrickung.

Auch wenn man keine direkten Linien von hier aus ziehen kann zum historisch gesehen später auftretenden und anders motivierten Antisemitismus: das Bild von den Juden als Christusmörder hat sich irgendwie auch bei denen festgesetzt, denen das Christentum persönlich eigentlich gar nichts bedeutet. Klischees prägen, scheinen sich über Generationen hinweg zu vererben bzw. zu verfestigen. Was da auf manchen Schulhöfen, an manchen Stammtischen und anderswo geredet wird, hat es in sich. Seien wir also wachsam. Wehret den Anfängen. Amen.

 
Gebet
Unser Gott und Vater, in Jesus Christus bist Du an unsere Seite gekommen. Er hat sich für uns hingegeben um alles zu überwinden, was uns von Dir und voneinander trennt: Gleichgültigkeit, Lieblosigkeit, unser Festhalten an Vorurteilen. Hilf Du auch uns, all das in unserem Miteinander zu überwinden. Im Namen Jesu bitten wir:
Vaterunser...

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org