Motettenansprache

  • 02.06.2018
  • Pfarrerin Taddiken

Motette am 2. Juni 2018Johann Sebastian Bach, Kantate „Brich dem Hungrigen dein Brot", BWV 39 Erster Teil 1. Coro Flauto I/II, Oboe I/II, Violino I/II, Viola, Continuo Brich dem Hungrigen dein Brot und die, so in Elend sind, führe ins Haus! So du einen nackend siehest, so kleide ihn und entzeuch dich nicht von deinem Fleisch. Alsdenn wird dein Licht herfürbrechen wie die Morgenröte, und deine Besserung wird schnell wachsen, und deine Gerechtigkeit wird für dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird dich zu sich nehmen. 2. Recitativo B Continuo Der reiche Gott wirft seinen ÜberflussAuf uns, die wir ohn ihn auch nicht den Odem haben.Sein ist es, was wir sind; er gibt nur den Genuss,Doch nicht, dass uns alleinNur seine Schätze laben.Sie sind der Probestein,Wodurch er macht bekannt,Dass er der Armut auch die Notdurft ausgespendet,Als er mit milder Hand,Was jener nötig ist, uns reichlich zugewendet.Wir sollen ihm für sein gelehntes GutDie Zinsen nicht in seine Scheuren bringen;Barmherzigkeit, die auf dem Nächsten ruht,Kann mehr als alle Gab ihm an das Herze dringen. 3. Aria A Violino solo, Oboe I, Continuo Seinem Schöpfer noch auf ErdenNur im Schatten ähnlich werden,Ist im Vorschmack selig sein.Sein Erbarmen nachzuahmen,Streuet hier des Segens Samen,Den wir dorten bringen ein. Zweiter Teil 4. Aria B Continuo Wohlzutun und mitzuteilen vergesset nicht; denn solche Opfer gefallen Gott wohl. 5. Aria S Flauto I/II, Continuo Höchster, was ich habe,Ist nur deine Gabe.Wenn vor deinem AngesichtIch schon mit dem meinenDankbar wollt erscheinen,Willt du doch kein Opfer nicht. 6. Recitativo A Violino I/II, Viola, Continuo Wie soll ich dir, o Herr, denn sattsamlich vergelten,Was du an Leib und Seel mir hast zugutgetan?Ja, was ich noch empfang, und solches gar nicht selten,Weil ich mich jede Stund noch deiner rühmen kann?Ich hab nichts als den Geist, dir eigen zu ergeben,Dem Nächsten die Begierd, dass ich ihm dienstbar werd,Der Armut, was du mir gegönnt in diesem Leben,Und, wenn es dir gefällt, den schwachen Leib der Erd.Ich bringe, was ich kann, Herr, lass es dir behagen,Dass ich, was du versprichst, auch einst davon mög tragen. 7. Choral Flauto I/II in octava e Oboe I/II e Violino I col Soprano, Violino II coll' Alto, Viola col Tenore, Continuo Selig sind, die aus ErbarmenSich annehmen fremder Not,Sind mitleidig mit den Armen,Bitten treulich für sie Gott.Die behülflich sind mit Rat,Auch, womöglich, mit der Tat,Werden wieder Hülf empfangenUnd Barmherzigkeit erlangen.

Lukas 16, 19-31

Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. 20 Ein Armer aber mit Namen Lazarus lag vor seiner Tür, der war voll von Geschwüren 21 und begehrte sich zu sättigen von dem, was von des Reichen Tisch fiel, doch kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. 22 Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben.23 Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. 24 Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme.25 Abraham aber sprach: Gedenke, Kind, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, du aber leidest Pein. 26 Und in all dem besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüberwill, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber. 27 Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus; 28 denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. 29 Abraham aber sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören. 30 Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. 31 Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.

Liebe Gemeinde,
zu der Kantate, die wir gleich hören werden, gibt es eine Legende: Johann Sebastian Bach hätte sie als sog. „Flüchtlingskantate" im Jahr 1732 zum Festgottesdienst für die vertriebenen Salzburger Protestanten komponiert. Allerdings hatte er das Werk schon zum 23. Juni 1726 geschrieben. Dennoch ist es möglicherweise sechs Jahre später erneut aufgeführt worden - aus diesem Anlass, ohne dass Dichter und Komponist es zuvor geahnt hätten.

Man weiß es nicht genau, aber angenommen, es würde stimmen: Wäre so etwas heute Anlass für jemanden, sich hinzusetzen und eine Kantate zu komponieren bzw. aufzuführen? Vielmehr erleben wir es manchmal, dass man uns sagt, die wir hier in der Thomaskirche musizieren und schöne Musik „Soli Deo gloria" - „allein zu Gottes Ehre" machen und hören: Wie könnt ihr das, die Welt steht nicht nur in Sachen Flüchtlingsnot und -elend in Flammen und ihr singt „Halleluja" - habt ihr da als Christen nicht ganz andere Aufgaben? Darüber lässt es sich natürlich trefflich streiten bzw. diskutieren und das muss man auch. Was ist jetzt dran, was ist angemessen - und wo werden auch falsche Alternativen aufgemacht? Auf youtube veröffentlicht seit einiger Zeit jemand regelmäßig Bilder von Kindern und Erwachsenen, die in Syrien verletzt oder getötet wurden - und diese Bilder sind mit Bach'scher Musik des Thomanerchors und anderer unterlegt, die er oder sie hier in der Thomaskirche unerlaubter Weise aufgenommen hat. Es ist eine einzige Bloßstellung der Opfer für eigene Zwecke. Wenn das Kritik in dem genannten Sinne sein soll, fordere ich denjenigen auf, sie uns als Gemeinde und den Musikern gegenüber zu äußern und damit aufzuhalten.

Was ist zu tun in einer Welt die brennt? Können wir guten Gewissens Kantaten hören wie diese? Ja, unter anderem das. Wir sollten es sogar. Denn gerade Kantaten wie diese heutige konfrontieren uns mit Urdaten des christlichen Lebens und Handelns.

Beide Teile der Kantate werden jeweils mit einem biblischen Zitat eröffnet, das den Tenor des folgenden bestimmt. Zunächst aus dem Alten Testament aus dem Propheten Jesaja: „Brich dem Hungrigen dein Brot und die, so im Elend sind, führe ins Haus." Und dann im zweiten Teil aus dem Neuen Testament aus dem Hebräerbrief: „Wohlzutun und zu teilen vergesst nicht, denn solche Opfer gefallen Gott wohl." Es geht schlicht um die Meditation der nicht nur biblischen Tatsache, dass wir uns die wichtigsten Dinge im Leben nicht selbst verdanken. Dass wir alle schon immer vom Geschenk unseres Lebens leben. So ist im Bass-Rezitativ davon die Rede, dass Gott seinen Überfluss auf uns wirft und dass wir „ohn ihn auch nicht den Odem haben". Und dass unsere Antwort darauf nicht die „Zinsen" sein sollen, die wir ihm für dieses „gelehnte Gut" in die Scheunen bringen, sondern „die Barmherzigkeit, die auf dem Nächsten ruht". Und im zweiten Teil der Kantate betont die Sopran-Arie nochmals mit Nachdruck: Gott will und braucht keine Opfer von uns. Sondern unsere Bereitschaft, uns in den Nächsten hineinzuversetzen und ihn so zu behandeln wie wir selbst von ihm behandelt werden wollen - mitsamt der Bereitschaft, so dann im folgenden Alt-Rezitativ, ihm „dienstbar" zu werden.

Um es vorweg zu nehmen: Es reicht nicht, als Christenheit Kantaten aufzuführen. Denn: auch eine solche Kantate wie die heutige bietet keine einzige konkrete Lösung für unsere Probleme und Themen heute. Weder für die Frage, wie gehen wir mit der größer werdenden Schere zwischen arm und reich um und etwa damit, dass auch hier in Leipzig das zunimmt, was in anderen Großstädten leider längst schon so ist. Dass viele Familien die Mieten kaum mehr aufbringen können, einer manchmal nur dafür arbeitet. Weder darauf noch, Stichwort „Flüchtlingskantate", wie wir in Sachen Integration und Asyl zu Lösungen kommen. Aber, und deswegen ist gerade die Aufführung solch einer sich uns einprägenden Verbindung von Musik und Wort unabdingbar, gerade solch eine Kantate gibt uns für alle Diskussionen und Überlegungen in diesen Bereichen wichtige Hinweise. Sie weist uns hin auf die innere Grundhaltung, mit der wir die Diskussionen darüber aus christlicher Perspektive führen können bzw. auch sollten: Was können denn „Barmherzigkeit" und „Teilen" heute bedeuten? Wie kann das aussehen? Das ist ja nicht klar, es muss immer wieder diskutiert werden.

So spitzt die Kantate auf ihre Weise auch das zu, was die ihr textlich zugrunde liegende Lazarus-Geschichte aus dem Lukasevangelium thematisiert. Wir haben sie gehört - da geht es um diesen Spalt zwischen arm und reich bzw. oben und unten - und dass er nicht zu überwinden ist, so lange man ihn zwar realisiert aber zugleich so weiterlebt, als wäre nichts. So lässt der Evangelist Lukas den vom Reichen angerufenen Vater Abraham auf seine Bitte, seine reichen Brüder vor dieser Gleichgültigkeit zu warnen, mit dem Verweis auf Mose und die Propheten antworten: Wenn ihr die nicht hört, ist Euch nicht zu helfen. Sorgt für Recht und Gerechtigkeit zu Lebzeiten. Eigentlich wisst Ihr, was zu tun ist - die Aufgabe besteht darin, zu überlegen, wie es denn jetzt und hier geht. Und so ist solch ein biblischer Text und solch eine Kantate nichts anderes als eine Erinnerung an uns alle: Ein Aufruf an unseren Verstand und unsere Phantasie, uns Gedanken zu machen, wie wir die Dinge anpacken. Wie wir den sozialen Frieden in all unseren Beziehungen wahren können, wie wir mehr Gerechtigkeit schaffen können und unserer Gleichgültigkeit und Trägheit in so manchem Bereich aufhelfen lassen können. Dazu brauchen wir eben auch das, was Johann Sebastian Bach einmal selbst als Ziel seiner Musik außer „zur Ehre Gottes" beschrieben hat: Nämlich zur „Recreathion des Gemüths" bei uns Menschen - also den Trost und die Kraft der Musik, das Halleluja des Gottesdienstes und der Motetten Woche für Woche. So möge auch heute uns diese Kantate erreichen an Leib, Seele und Geist.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org