Motettenansprache
- 01.06.2018
- Pfarrerin Taddiken
John Rutter (geb. 1945)Visions (2016)für Chor, Harfe, Violine und Orgel
1. Prelude: Jerusalem the blessed
Urbs Jerusalem beata, Selige Stadt Jerusalem, genannt wirst
dicta pacis visio, du „Erblicken des Friedens".
quæ construitur in caelis Du wirst im Himmel errichtet
vivis ex lapidibus, aus lebendigen Steinen
et angelis coronata, und gekrönt mit Engeln
ut sponsata comite. wie eine Braut durch ihr Gefolge.
Portæ nitent margaritis Deine Tore glänzen von Perlen, und
adytis patentibus: dein Innerstes liegt offen zugänglich da:
et virtute meritorum und durch die Kraft der edlen Taten
illuc introducitur wird in dich hineingeführt
omnis qui ob Christi nomen jeder, der um Christi Namens willen
hic in mundo premitur. hier auf der Welt leiden muss.
mittelalterlicher Hymnus
Deutsche Übersetzung: Matthias Rabe
2. Arise, shine
Arise, shine; Steh auf, werde licht,
for thy light is come, denn es kommt dein Licht
and the glory of the Lord und die Herrlichkeit des Herrn
is risen upon thee. geht strahlend auf über dir.
And the Gentiles shall come to thy light, Nationen wandern zu deinem Licht
and kings to the brightness of thy rising. und Könige zu deinem strahlenden Glanz.
For behold, I create Jerusalem a rejoicing, Denn siehe, ich erschaffe Jerusalem
and her people a joy. zum Jauchzen und sein Volk zum Jubel.
Jesaja 60,1.3;65,18
Lament for Jerusalem
Sion is wasted and brought low; Jerusalem ist zur Wüste geworden
desolate and void. und liegt zerstört; trostlos und leer.
Jesaja 64
Finale: The Holy City
I saw the holy city, Und ich sah die heilige Stadt,
new Jerusalem. Alleluja. das neue Jerusalem. Halleluja.
And the city was pure gold, Und die Stadt war aus reinem Gold,
like unto clear glass. gleich reinem Glas.
And I saw no temple therein: Und ich sah keinen Tempel darin:
for the Lord God Almighty denn der Herr, der allmächtige Gott,
and the Lamb are the temple of it. und das Lamm sind ihr Tempel.
And the city had no need of the sun, Und die Stadt bedarf keiner Sonne
neither of the moon, to shine in it: noch des Mondes, dass sie ihr scheinen;
for the glory of God did lighten it, denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie,
and the Lamb is the light thereof. und ihr Licht ist das Lamm.
Offenbarung des Johannes 21,2.21-23
Liebe Gemeinde,
durch John Rutters Komposition „Visions", die die heutige Motette prägt, zieht sich eine der größten Sehnsüchte der Menschheit: die Sehnsucht nach Frieden. In einem selbst, zwischen den Menschen, den Völkern - und dann auch nach dem Moment, wo keine Fragen mehr offen sind und alles Leid vorbei: das, was nach christlicher Überlieferung das himmlische Jerusalem beschreibt.
Jerusalem ist seit biblischer Zeit Zielpunkt dieser Sehnsucht, alle Völker, alle Nationen gar werden sich dort versammeln, wie es das Werk in seinem zweiten Satz mit Bezug auf den Propheten Jesaja aufnimmt. Aber es ist zugleich und tragischerweise der Schauplatz schrecklichster Auseinandersetzungen, Kriege, Terror. Es ist Ort der Demütigung und der Niederlage, die Stadt wurde von den Babyloniern und später den Römern eingenommen. Der Tempel als Herzstück jüdischer Identität, der Ort, an dem mit den 10 Geboten die Urkunde des Bundes zwischen Gott und Israel aufbewahrt wurde und den man als Ort der spürbaren Anwesenheit Gottes bei den Menschen verehrte - zerstört, geschändet, besetzt, wie es im dritten Satz bei John Rutter heißt: Jerusalem ist zur Wüste geworden und liegt zerstört, trostlos und leer. Aber es wurden auch immer große Hoffnungen damit verbunden, wenn die Stadt, der Tempel, das Leben dort wieder aufgebaut wurden. So stark waren die Gefühle und die Hoffnungen für diese Stadt: Es muss doch möglich sein, hier, in der Stadt, die Juden, Christen und Muslimen heilig ist, miteinander zu leben in Frieden!
Wer heute nach Jerusalem reist, kann allen Mauern und Gittern, Checkpoints und Metalldetektoren, Spucke und Steinwürfen zum Trotz beobachten, dass das trotzdem geht, dass die Besonnenen dafür eintreten, dass sie als Menschen unterschiedlichen Glaubens und vor allem unterschiedlicher politischer Couleur zusammenleben können. Hier sind Dinge möglich unter den Religionen, die gehen anderswo nicht, zu bestimmten Zeiten bzw. Feiertagen ist es sogar möglich, dass Moscheen als Kirchen genutzt werden - und andersherum vielleicht auch. Und dennoch schwebt die Gefahr der Gewalt immer über allem, es reicht ein Funke, es reicht eine Provokation und die Kräfte der Abgrenzung und der Feindseligkeit brechen sich furchtbar Bahn, auch innerhalb der Religionsgemeinschaften. Selbst in der Grabeskirche kommt es immer wieder zu Prügeleien zwischen den dort vertretenen Konfessionen. Oder es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Toten wie zuletzt nach der Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem. An Jerusalem hängen eben viele Visionen vieler Seiten, nicht nur die vom ewigen Frieden...
Es ist faszinierend und bedrückend zugleich, diese Stadt und ihre Menschen zu besuchen und all das, was sich dort äußerlich wie in den Köpfen der Menschen abspielt zu beobachten und zu bedenken. Viele haben diese Stadt in ihrer Zerrissenheit und doch einmaligen Kraft und Friedenshoffnung ins Herz geschlossen. Wenn man durch Israel reist und befindet sich zum Beispiel am schönen See Genezareth, kann es einem jedoch passieren, dass Leute einem raten: Gehe nicht nach „Bloody Jerusalem". „Blutiges Jerusalem" - oder auch „verdammtes Jerusalem", meistens meinen die Leute beides zusammen. Und die Versuchung ist groß, dort oben im Norden zu bleiben. Die Hügel, die Wiesen, die Boote auf dem See, die Rückzugsorte und Aussichtspunkte, ein weiter Blick, die Sonne auf dem See - es ist wie gemalt. Bilder des Friedens, in denen sich spiegelt, was Jesus vom Reich Gottes erzählt hat.
Auch ihn wollten seinerzeit einige davon abhalten, nach Jerusalem zu gehen: „Bloody Jerusalem" - das ist es, was ihn erwarten würde. Aber er ist ihn bewusst gegangen, diesen Weg aus der Idylle und Zufriedenheit mitten hinein in Hass und Gewalt. Er geht ihn als einer, der diese Gewalt und diesen Hass nicht mit einer weiteren Machtdemonstration beantwortet, sondern sich dem ausgesetzt hat, was bis heute nicht nur in Jerusalem zu finden ist - dem Machtstreben, das vor nichts zurückschreckt. Den Kräften, die Menschen gegeneinander aufbringen. Er hat sich ihnen ausgeliefert, um sie mit ans Kreuz zu nehmen und sie zu überwinden. Sie konnten seinen Weg nicht töten und auch nicht seine Botschaft, zu der auch dieser Satz gehört: „Selig sind, die Frieden stiften.". „Stiften". Also alle, die ihre Kräfte dafür einsetzen, dass Menschen zusammen finden und friedlich in ihrer Verschiedenheit zusammenleben können. Nicht erst im Himmel, sondern hier und jetzt schon. So ist Jerusalem nicht nur Ziel unserer Sehnsucht und unserer Vision vom Frieden, sondern schon jetzt gilt auch das, was der erste Satz in diesem Werk fast unbemerkt zur Sprache bringt: Jerusalem ist immer auch gebaut aus „lebendigen Steinen". Und es ist nicht nur am topografischen Ort Jerusalem zu finden. Sondern auch hier und heute. Amen.
Gebet
Unser Gott,
wir bitten Dich um Frieden für Jerusalem, für die Menschen, die dort leben. Wir bitten um Frieden im Nahen Osten und für alle, die zwischen die Fronten der Interessen geraten sind: Kinder, Frauen und Männer. Wir bitten Dich für alle, die mit ihren Kräften und Mitteln Frieden zu stiften versuchen, dort und auch hier bei uns und zwischen uns. Hilf uns, aufeinander zu achten und einander zu achten, heute und allezeit. Im Namen Jesu bitten wir: Vaterunser...
Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org