Motettenansprache
- 20.11.2021
- Pfarrerin Britta Taddiken
Motette am Sonnabend, 20. November 2021
Johann Sebastian Bach (1685-1750)
BWV 140 |
| Wachet auf, ruft uns die Stimme |
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1. Coro |
| Wachet auf, ruft uns die Stimme |
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2. Recitativo T |
| Er kommt, er kommt, |
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3. Aria (Duetto) S B |
| Seele (S), Jesus (B) |
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4. Choral T |
| Zion hört die Wächter singen, |
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5. Recitativo B |
| So geh herein zu mir, |
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6. Aria (Duetto) S B |
| Seele (S), Jesus (B) |
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7. Choral |
| Gloria sei dir gesungen |
Biblischer Text:
Dann wird das Himmelreich gleichen zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und gingen hinaus, dem Bräutigam entgegen. 2 Aber fünf von ihnen waren töricht und fünf waren klug. 3 Die törichten nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen kein Öl mit. 4 Die klugen aber nahmen Öl mit in ihren Gefäßen, samt ihren Lampen. 5 Als nun der Bräutigam lange ausblieb, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. 6 Um Mitternacht aber erhob sich lautes Rufen: Siehe, der Bräutigam kommt! Geht hinaus, ihm entgegen! 7 Da standen diese Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen fertig. 8 Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsre Lampen verlöschen. 9 Da antworteten die klugen und sprachen: Nein, sonst würde es für uns und euch nicht genug sein; geht aber zu den Händlern und kauft für euch selbst. 10 Und als sie hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür wurde verschlossen. 11 Später kamen auch die andern Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu uns auf! 12 Er antwortete aber und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euch nicht. 13 Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde. (Matthäus 25,1-13)
Liebe Gemeinde,
„die Orgel präludieret auf die Hauptmusik“, so steht es vor dem Kantatentext in Ihrem Programm. So war es zu Bachs Zeiten in den Gottesdiensten üblich. Und so wird es Thomasorganist Ullrich Böhme auch gleich tun, unmittelbar vor der Kantate, in seiner letzten Motette mit dem Thomanerchor im aktiven Dienst. „Die Orgel präludieret auf die Hauptmusik“, das umfasst dabei ganz gut die Aufgabe des Thomasorganisten. Sie, Herr Böhme, haben hier 35 Jahre lang auf die Hauptmusik präludieret und auch noch auf anderes. Mit Ihrem Continuospiel bereiteten Sie Bachs Kantaten ein sicheres Fundament. Und ebenfalls Soli Deo Gloria haben Sie unseren Gemeindegesang in all den Jahren gleichermaßen angeleitet wie unterstützt. Das wollen wir nach der Motette noch eingehender würdigen. Aber hier ist jetzt zumindest ein Teil der Gemeinde anwesend, die Sie gern bei Ihrem Abschied dabei haben wollten: die Gemeinde aus Thomanerchor, Gewandhausorchester und vielen, vielen Menschen, die Ihr Wirken hier sehr schätzen und Ihnen dankbar sind. Gottseidank ist das jetzt, so sieht es aus, gerade noch möglich, es ist kein Tag zu früh dafür, dass wir Ihnen als Ihre Gemeinde jetzt an dieser Stelle ein hörbares Zeichen unseres Dankes übermitteln…
Und, lieber Herr Böhme, 35 Jahre lang haben Sie mit und für den Thomanerchor musiziert. Jetzt wird er für Sie singen und dieses Werk von Joseph Rheinberger haben Sie etliche Male vor allem in den Freitagsmotetten gehört. Hier kommt es für Sie:
Thomanerchor: J. Rheinberger: Abendlied
Es gibt kaum Zufälle. Ausgerechnet für heute steht eine Kantate auf dem Motettenprogramm, die höchst aktuell ist. „Wachet auf, ruft uns die Stimme“. Dieser Kantate liegt ein Lied von Philipp Nicolai zugrunde. Er hat es 1599 für die Stadt Unna geschrieben. Dort war gerade die Pest durchgezogen und hatte Tausende Menschen dahingerafft. Und mit seinem Lied über das Evangelium von den fünf törichten und fünf klugen Jungfrauen wollte er aufrütteln: Verpasst nicht, verschlaft nicht, was jetzt dran ist. Rüstet Euch, besorgt Euch Öl. Im Gleichnis ist das so etwas wie der Treibstoff der Hoffnung. Alle brauchen ihn. Man kann ihn nicht so ohne weiteres teilen. Wenn ich nie für mich, für meine Seele vorsorge für die finsteren Zeiten in meinem Leben, dann wird auch nichts das ein, wenn sie kommen. Wir sind nicht mehr richtig vorbereitet auf so etwas wie eine Pandemie, auf allen Ebenen nicht, das erfahren wir jetzt sehr bitter. Zu viel geschlafen! Wachet auf! Was ist da noch möglich? Die Menschen im 16. Jahrhundert hatten erheblich weniger medizinische Möglichkeiten. Umso wichtiger war es, sich seelisch, mental zu rüsten. Das konnten die Menschen vielleicht besser als wir heute. Auch zu Bachs Zeiten war das noch so, denn auch in Leipzig kam immer mal die Pest durch. Und Nicolai wie auch Bach versuchten den Menschen in dieser Situation Trost zuzusprechen.
Und so ist nachzuvollziehen, warum in unserer Kantate die düster- bedrohlichen Züge des Gleichnisses von den fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen/Menschen ganz ausgeblendet werden. Zum einen bringt der bei Nacht kommende Bräutigam selbst das Öl mit, das unsere Lebensflamme am Brennen hält. So heißt es in der zweiten Strophe: „Ihr Freund kommt vom Himmel prächtig, von Gnaden stark, von Wahrheit mächtig.“ Seine Gnade und seine Wahrheit sind es, durch die der Stern dieser Stadt aufgeht. Er bringt mit sich, was immer wieder dringend unter uns der Erneuerung bedarf: Gnade und Wahrheit. Sie wollen gelebt werden unter uns. Schnell wird es finster unter uns, wenn wir anderes als dieses Öl benutzen und damit auch untereinander nicht mehr sorgsam umgehen. Da gehen in einer Stadt, in einem Land, in einer Gesellschaft schnell die Lichter aus.
Zum anderen ist in der Kantate im Gegensatz zum biblischen Gleichnis von einer verschlossenen Tür nicht mehr die Rede. Hier geht es darum, die der Dunkelheit ihres Lebens überdrüssigen Menschen aufzurichten und in ihnen im wahrsten des Wortes die Lust und die Liebe zum Leben wiederzuerwecken: Hört auf den Ruf, der euch aus der mittelnächtlichen Dunkelheit Eurer Anfechtung herausruft und geht ihm nach – denn Euer Leben hat ein Ziel.
Bach schafft mit dieser Kantate etwas, für das uns heute eher Bilder und Worte fehlen: Dass wir am Ziel unseres Lebens dort ankommen, wo wir willkommen sind und wo wir dem Ende aller Irrungen und Wirrungen entgegensehen können. In einem Festsaal, in dem die himmlische Hochzeit stattfindet. Wo wir heute eher ziemlich stimm-und kraftlos fragen: Ewiges Leben, was soll das sein, kommt überhaupt etwas? führt Bach uns mit diesem Bild zu den tiefsten Gefühlen, zu denen wir fähig sind. Er lässt Liebesduette erklingen zwischen Gott und Mensch, zwischen Christus und der glaubenden Seele. Anspielungen aus dem Hohenlied Salomos finden sich hier, so wie im Duett zwischen Bass und Sopran: „Ich will mit Dir in Himmels Rosen weiden, da Freude die Fülle, da Wonne wird sein.“ Das ist eins der schönsten Liebesduette der Musikgeschichte. Und diese himmlische Wonne, sie führt in der letzten Choralstrophe ins Unaussprechliche. Keine Worte reichen aus, um das himmlische Ziel unseres Lebens zu beschreiben: „Kein Aug hat je gespürt, kein Ohr hat je gehört, solche Freude, des sind wir froh, io, io, ewig in Dulci Jubilo.“ Das sind weihnachtliche Klänge: Die neue Geburt in der Ewigkeit…
So fremd uns diese Sprache und Bilder auch sein mögen – ihre Botschaft ist klar: Nicht Nichts wird am Ende sein, sondern Begegnung; das immerwährende Gespräch zwischen Gott und Mensch, das endlich erreichte Einverständnis. Hier kann, wie es im Bassrezitativ heißt, die Seele all das vergessen, die Angst, den Schmerz, den sie hat erdulden müssen.
Und ganz am Ende sind wir dann das, was auch in der Kantate am Ende steht: „Konsorten“ der Engel. Wörtlich genommen heißt das, wir haben das gleiche Los wie sie. Nämlich miteinzustimmen in dieses Lied: „Gloria sei Dir gesungen“. Amen.
Gebet
Unser Gott und Vater, wir sehnen uns nach Erneuerung und Erlösung unserer Welt und ihrer Not.
Wir bitten Dich für die, die besonders belastet sind: für die, die keine Kraft mehr haben für eigene Wege, für Menschen, die an ihrem Schmerz zugrunde gehen und verstummen, für die, die erkrankt sind und für die, die im Laufe des letzten Kirchenjahres verstorben sind. Stehe ihnen bei und mache uns wach dafür zu erkennen und umzusetzen, wo wir mit tragen können und aufbrechen und unsere Lampen brennen lassen. Dazu bitten wir Dich um Kraft mit Jesu Worten: Vaterunser…
Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org