Motettenansprache

  • 26.05.2018
  • Pfarrerin Taddiken

Die Ansprache in dieser Motette hielt Pfrn. Kathrin Oxen, Leiterin des Predigtzentrums der EKD in Wittenberg

Die grüne Zeit
Ansprache in der Motette in der Thomaskirche am 26. Mai 2018 zur Missa in F-Dur (BWV 233)
Pfarrerin Kathrin Oxen, Lutherstadt Wittenberg, kathrin.oxen@wittenberg.ekd.de

Das mit dem Flieder ist für dieses Jahr schon wieder vorbei. Und bald auch der Mai. Um die Ecke, da wirft der Nachbar schon wieder den Rasenmäher an. Und danach ist es kurz, all das Grün. Ich kenne das auch: Tage, die sich anfühlen, als wäre ein Rasenmäher drüber gegangen. Kurz, gepflegt, noch grün. Die sogenannte Mitte des Lebens, die Zeit, in der man im Mai nicht mehr dauernd zu Hochzeiten eingeladen wird - weil alle schon oder schon nicht mehr verheiratet sind. Die Mitte des Lebens, die Zeit ohne die großen Feste. Eine sehr erwachsene Zeit.

Auf diese Zeit gehen wir auch im Kirchenjahr zu. Morgen, am Sonntag Trinitatis, sind Kanzel und Altar noch einmal in festlichem Weiß geschmückt. Nach Trinitatis kommen die vielen, vielen Sonntage danach. Das sind so Sonntage wie die Jahre nach den großen Festen, grün, aber ohne Flieder. Nach Weihnachten, Ostern und Pfingsten ist dies die erwachsene Zeit im Kirchenjahr. Grün und gepflegt - und mit dem Rasenmäher im Ohr. Ich möchte etwas haben für diese Zeit. Es soll mir etwas bleiben von den großen Festen.

Ich weiß nicht, ob Johann Sebastian Bach das Blühen und Verblühen des Flieders in jedem Jahr auch so berührt hat. Was ich weiß: Auch er wollte offenbar etwas haben für die Zeit ohne die gro-ßen Feste. 1736 hatte er die Matthäuspassion als letzte große Komposition für das Kirchenjahr vollendet, nach seinen vielen Kantaten zu biblischen Texten und Chorälen, nach seinen großen Oratorien und Passionen. Die Mitte seines Lebens hatte er da schon deutlich überschritten.
In dieser Zeit entstanden die sog. „Lutherischen Messen". Die Messe in F-Dur gehört dazu. Das ist Musik für die Zeit ohne die großen Feste. Sie kann in jedem Gottesdienst an jedem Sonntag aufge-führt werden. Diese Messen bestehen nur aus Kyrie und Gloria, die im Eingangsteil jedes lutheri-schen Gottesdienstes vorkommen.
Johann Sebastian Bach vertont in diesen Messen nicht die großen Momente, sondern den Alltag des Glaubens.
Aber Bach rettet auch etwas von den großen Festen in den Glaubensalltag hinein. Er geht in der Mitte seines Lebens noch einmal durch den großen Garten seiner geistlichen Musik, sucht sich Schönes heraus und verpflanzt einiges davon an neue Orte.
In der Messe in F-Dur ist der Schlusschor zum Beispiel nach dem Eingangschor einer Weihnachts-kantate gestaltet - zwar nicht mit Pauken und Trompeten, aber immerhin mit zwei Hörnern: Weih-nachten ist nicht nur das Weihnachtsoratorium in der Thomaskirche und Ostern ist mehr als die Matthäuspassion am Karfreitag. Weihnachten ist auch, wenn der Flieder blüht. Und Ostern kann es werden, wenn draußen schon alle Blätter fallen. Die Zeiten des Glaubens sind andere als die Jahreszeiten.

Zum Beispiel fallen Weihnachten und Ostern hoffentlich morgen zusammen in einem großen Sieg auf dem grünen Rasen beim SV Lindenau. Denn morgen findet dort das Fußballturnier der Thoma-ner gegen den Dresdner Kreuzchor statt. Aus den wohlerzogenen Chorknaben dort oben auf der Empore werden dann entfesselte Spieler und Fans. Und wir wünschen Euch natürlich, dass ihr ge-winnt! Denn darüber redet man natürlich länger und lieber als über eine Niederlage...

Es bleibt etwas von den großen Festen. Johann Sebastian Bach holt es in den Alltag hinein. Wie er das macht - das will ich mir zu Herzen nehmen für die Zeit ohne Feste, für die grüne Zeit, für mein Leben auf der langen Strecke des Erwachsenseins.

Das eine: Das Kyrie, die Klage, ist doch so viel kürzer als das Lob. Nur 128 Takte von 706 und auch noch Allabreve. Es gibt in jedem Leben Zeiten, die sich anfühlen, als wäre da gerade ein Ra-senmäher drüber gegangen. Und das kann den Glauben daran, dass Gott mich liebt und für mich da ist, sehr zurückstutzen.
Doch in dem Kyrie, in der Klage gibt es einen cantus firmus, eine musikalische Grundlinie, auf der sich alles aufbaut: Christe, du Lamm Gottes. Eine Erinnerung an Jesus Christus. Er kennt das Leben. Er war ein Kind und wurde erwachsen, er hat gelacht und geweint, gefeiert und getrauert wie wir. Er musste leiden und sterben. Und deswegen sind wir in keinem Leiden alleine. Aus diesem Grund treibt neues Leben, so beharrlich wie das erste Grün im Frühling. Es wird wieder grün, auch nach schweren Zeiten.

Und das andere: Das Gloria, das Lob Gottes, das soll, wie in der Messe, den größeren Anteil in unserem Leben haben. Und daran muss man arbeiten. Johann Sebastian Bach hat - selbst die Fachleute wundern sich - offenbar keine Vorlage für den ersten Chorsatz des Gloria verwendet. Oder - sage ich - er wollte keine verwenden.
Weil ich das Lob Gottes neu erfinden muss, an jedem Tag meines Lebens. Nicht immer erfüllt es mich so spontan wie angesichts des blühenden Flieders. Oft ist es eher das Gänseblümchen auf einem kurzen Rasen. Manchmal muss ich es suchen. Es gibt keine Vorlagen dafür. Und das ist das Gute daran, weil mein Lob in kein Schema passen muss. Alles kann Grund zum Lob sein, nichts ist zu klein dafür.

Das Lob Gottes erklingt in verschiedenen Stimmen, tief und väterlich tragend wie im Bass, jubelnd wie im Sopran, warm und mütterlich wie im Alt. Vielstimmig ist das Lob. Vielfältig ist Gott zu spüren in meinem Leben. Sein Lob einzuüben, ist eine Aufgabe und eine Arbeit.
Die Jungen dort oben auf der Empore könnten auch davon ein Lied singen, von den vielen Stunden Probe an jedem Tag der Woche. Das tun sie aber nicht. Sie singen soli deo gloria, an Weihnachten und Ostern und Pfingsten, wenn der Flieder blüht und wenn die Blätter fallen, an vielen, vielen Sonntagen, durch das Jahr und durch das Leben. Hören wir ihnen nicht nur zu. Hören wir auf sie und tun wir es ihnen nach.

Amen.