Motettenansprache

  • 16.03.2024
  • Pfarrer Lüder Laskowski

Komm, Jesu, komm, mein Leib ist müde,
Die Kraft verschwindt je mehr und mehr;
Ich sehne mich nach deinem Friede;
Der saure Weg wird mir zu schwer.
Komm, komm, ich will mich dir ergeben;
Du bist der rechte Weg, die Wahrheit und das Leben.

Liebe Motettengemeinde,

ein Zug Menschen geht im September 1684 durch Leipzig. Ein Sarg wird getragen, dahinter Honoratioren und die Stadtgesellschaft. Der ehemalige Konrektor der Thomasschule und Professor für Moralphilosophie, der Lehrer Gottfried Wilhelm Leibnitz und seines eigenen später berühmten Sohnes Christian Thomasius wird hier verabschiedet. Die Grablege des angesehenen Jakob Thomasius ist für die Stadt und die Thomaskirchgemeinde ein bedeutendes Ereignis. Zu diesem Anlass hat der Thomaskantor Johann Schelle selbst die Begräbnismotette komponiert. Paul Thymich schreibt den Text. Der hatte einst selbst an der Thomasschule gelernt und war nun Lehrer daselbst seit 1681. Man wird ihn gekannt haben als Dichter geistlicher und weltlicher Lieder sowie als Librettist der Leipziger Oper und des Weißenfelser Hofes. Das gemeinsame Werk der Kollegen aus der Thomasschule hatte den in den Ohren klingenden Titel „Komm, Jesu, komm“. Fünfunddreißig Jahre später nimmt sich wieder ein Thomaskantor, Johann Sebastian Bach, den Text anlässlich eines Begräbnisses noch einmal vor.

Die Musik berührt ganz direkt, wie wir eben eindrucksvoll hören konnten. Sie ist im besten Sinne erhebend. Auch jetzt war sie es, als sie hier in die hohen Gewölbe stieg. Erinnern sie sich noch an die aufschwingende Linie am Ende jeder Strophe? Wie eine weite Treppe, die nach oben führt, macht sie die Summe des Textes hörbar, dringt ins Ohr und ins Herz als eine Möglichkeit, den Tod anzunehmen. Wir hören schon in dieser Melodie die im Augenblick der Trauer irritierend sicher vorgetragene Überzeugung, dass der Tod ein glücklicher Moment sei, in dem der vom harten Leben müde Mensch sein Ziel erreicht. Das bedarf, denke ich, der Erklärung, soll es nicht fade oder sogar zynisch klingen, angesichts des Leids und der Schmerzen, die der Tod mit sich bringt.

Thymichs Text schmiegt sich eng an einen Vers aus dem Evangelium des Johannes. Dort heißt es in Kapitel 14 Vers 6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ Und dieser Vers ist denn auch der Schlüssel zum Gestus der Motette insgesamt. Und das nicht nur in seiner musikalischen Form, die tröstlich bis ins Herz geht. Durch die Verortung des Textes wird der geistige Untergrund sichtbar, auf dem stehend Schelle und Thymich es überhaupt wagen konnten, solch eine Komposition in einer Trauerfeier aufzuführen. In der ja Menschen zusammengekommen sind, die gerade jetzt verwirrt sind und traurig, die keinen Ausweg aus ihrer Trauer sehen.

Schauen wir ins Johannesevangelium. Genau so ging es, als diese Worte zuerst gesprochen wurden, auch den Jüngern Jesu. Sie sind verwirrt und traurig. Sie spüren, wie ihnen das Liebste entgleitet und sie können nichts dagegen tun. Mehr noch. Es steht der Sinn und Wert der Monate und Jahre, die hinter ihnen liegen, grundsätzlich in Frage. Jesus hat seine Abschiedsrede gehalten. Er hat ihnen unmissverständlich gesagt, dass der Tod auf ihn wartet, dass er verraten würde, dass die Jünger aus Angst behaupten würden, sie hätten ihn nicht gekannt. Auf Fußwaschung und Abendmahl redete er ihnen in eindringlichen Worten ins Gewissen: liebt einander. Dann spricht er von dem Weg, den er vorangeht in den Tod.

Das ist zu viel. Die Jünger sind verwirrt, verunsichert, frustriert. Aus Thomas, dem Namensgeber dieser Kirche, der ja immer noch einmal nachfragt, platzt es heraus: „Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; wie können wir den Weg wissen?“ Da antwortet Jesus mit diesem Satz: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Wenn Thymich und Schelle diesen Vers nun zum Bezugspunkt ihrer Begräbnismotette machen, dann ist die Verwirrung, die Trauer, die Verzweiflung angesichts von Tod und Leid von vornherein mit eingetragen. Denn sie läuft der Zusage voraus, die Jesus hier gibt. Heute nun sind wir in der Passionszeit mit den Jüngern auf dem Weg. Wir sehen unsere eigene Trauer, Verwirrung, Verzweiflung und wundern uns mit ihnen über die Klarheit, mit der Jesus auftritt.

Schauen wir uns aus dieser Perspektive die drei Schlagworte Jesu an. Weg, Wahrheit, Leben. Angesichts dessen, was Jesus auf dem Weg ans Kreuz bevorstand, erscheinen seine Aussagen unverständlich. Was für ein Weg soll das denn sein? Jesu Weg führte ihn ans Kreuz. Jesus die Wahrheit? Was für Wahrheit? Jesu starb durch Intrigen und zwischen Verbrechern. Jesus das Leben? Wo bleibt denn hier das Leben, wenn er doch qualvoll stirbt und in ein Grab gelegt wird?

Erst einmal erscheinen die Aussagen Jesu widersprüchlich und unverständlich. Warum gerade diese drei Themen: Weg, Wahrheit und Leben? Ich meine, wenn wir sie bis in die Gegenwart weiterdenken, klingen sie doch sehr nahe. Wir Leben in einer Gesellschaft, in der die vielen Optionen zur Qual werden. Junge Menschen, die am Anfang stehen und sich für ihren Weg, ihre Bezüge privat wie beruflich entscheiden sollen, können von den Schwierigkeiten erzählen, die das mit sich bringt. Angesichts des Gefühls, keinen Stich mehr zu sehen in den vielen Veränderungen, in der Unordnung der Welt, wächst die Sehnsucht nach Auswegen. Das zweite Wort ist Wahrheit. Auch das ein großes Thema und zugleich eine Provokation angesichts der Relativität und Positionalität, in der wir uns heute orientieren müssen – zwischen Propaganda im Netz, dem politischen Meinungsstreit bis in die Familien und der berechtigten Skepsis gegenüber Vorbildern in einem aus guten Gründen postheroischen Zeitalter. Und ebenso sehnt sich der Mensch nach Leben. In einer Zeit, in der man ewig jung bleiben, ewig schön sein und so lang wie möglich leben will. Wellness, Beauty und Gesundheit sind ein dickes Geschäft. Hinter diesen Trends ist ohne Zweifel das tiefe Verlangen nach echtem, erfülltem Leben zu erkennen.

Jesus wählt bedacht genau diese drei Worte. Er verbindet sich durch sie mit Gott, indem er an alte Überlieferung anknüpft. Denn Gott erinnert sein Volk schon im Ersten Testament anhand dreier Gegenstände, die in der Bundeslade liegen, an drei Eigenschaften, die er hatte und die er immer wieder haben wird. Darin ist der Stock Aarons, der an den Weg erinnert, den Gott durch die Wüste mitgegangen ist. Dort fanden sich die Gesetzestafeln, die die von Gott gegebenen Grundlagen des Rechts wahrhaft im Volk begründeten. Und wir können lesen, dass dort Manna aufbewahrt wurde, welches in der Wüste Leben möglich machte.

Jesus nimmt die Grundbausteine der Erinnerung an die Rettung aus Knechtschaft und lebensfeindlicher Wüste, aus dem Zweifel, der Ziellosigkeit, dem Hunger und den Zerwürfnissen im alten Volk und legt sie vor den Jüngern aus. Dazu sagt er ein festes: „Ich bin.“ Nicht ihr seid es, sondern ich bin es. Ich glaube nicht, dass man aus diesem „ich bin“ einen totalitären Absolutheitsanspruch herleiten kann, den viel zu oft die Kirche auf sich und ihre Repräsentanten projiziert hat. Ich denke, viel wichtiger ist, was wir darum, weil Jesus es schon für uns ist, nicht mehr selbst sein müssen. Um an die Zeitdiagnosen eben anzuschließen. Keiner muss menschlichen Führern nachrennen, weil es möglich ist einen Weg miteinander zu finden, indem wir gemeinsam Jesus nachgehen. Niemand muss entweder behaupten, er hätte die Wahrheit gepachtet noch muss er alles in Zweifel ziehen. Es gibt die Wahrheit in Jesus und jetzt in dieser Welt geht es darum, immer wieder einmal einen kleinen Teil von ihr zu erhaschen. Und das Leben ist nicht die letzte Gelegenheit, die wir uns rücksichtslos gegen alle anderen und uns selbst erkämpfen müssen, denn wir haben Anteil an Jesu Wirken, seinem Leiden und seiner Auferstehung.

„Komm, Jesu, komm.“ Was der Komponist Schelle und der Textdichter Thymich hier für das Begräbnis des ehrwürdigen Herrn Thomasius geschaffen haben, ist kein leichtfertiger Trost. Ihre vorgetragene Überzeugung, dass der Tod ein glücklicher Moment sei, in dem der vom harten Leben müde Mensch sein Ziel erreicht, hat einen tieferen Grund, auf den auch wir uns stellen können. Er liegt in dem Jesuswort: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“