Motettenansprache
- 28.03.2025
- Kirchenrat Lüder Laskowski
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Ansprache zu Tomás Luis de Victoria (1548–1611), „Caligaverunt oculi mei“ für vier Stimmen
Dunkel sind meine Augen vom Weinen;
denn er, der mich getröstet hat,
ist fern von mir.
Schaut, ihr Völker alle,
ob ein Schmerz sei gleich dem meinen.
O ihr alle, die ihr des Weges zieht,
blickt her und schaut,
ob ein Schmerz sei gleich dem meinen.
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.
Liebe Gemeinde,
am späten Abend fallen keine Sonnenstrahlen mehr durch die hohen farbigen Fenster, die Säulen werfen keine langen Schatten über den Boden, man sieht nicht den feinen Staub im Licht schweben. Es ist dunkel, kein Licht, wer sich umschaut kann die Abmessungen des Raumes nicht mit dem Auge erfassen. Nur am Nachhall der Schritte lässt sich seine Weite erahnen. Allein ein dreieckiger Leuchter mit fünfzehn Kerzen, der im Chorraum neben dem Altar steht, glimmt zurückhaltend. Die ersten Töne des Chores schwingen sich auf ins Gewölbe und kehren vielfach gebrochen zurück. Getragen ist der Ton, zurückhaltend. Weil die Augen nichts sehen, sind die Ohren genauer. Jede Verschiebung zwischen den Stimmen geht tief hinein. Es ist eine körperliche Erfahrung. Sie überträgt sich von den Sängern auf die Hörerinnen und Hörer. Zieht sie alle zusammen und sie werden zu einem atmenden, bangenden Körper, der hier im Dunkel auf die tonlos schwankenden Kerzen blickt. Das Gefühl für die Zeit und den Raum verliert. Im finsteren Nichts um Orientierung ringt.
Das ist die Atmosphäre, in der ursprünglich erklang, was wir eben hörten. Caligaverunt oculi mei a fletu meo – Dunkel sind meine Augen von meinem Weinen. Tomás Luis de Victoria hatte dieses Bild einer dunklen hohen Kirche vor Augen, als er sich mit Feder und Tusche vor das Papier setzte, um zu komponieren. Sein Auftrag war, Musik für die Abendgottesdienste der letzten drei Tage bis zum Kreuz zu erfinden. Karmittwoch, Gründonnerstag, Karfreitag. Hörbar zu machen, was die Gemeinde erleben sollte. Offizium tenebrae nannte sich die spezielle Gottesdienstform und dazugehörige Liturgie – die „Messe der Finsternis“. Aufgebaut ist es ähnlich einem Totenamt, einem Requiem. Abwechselnd werden Psalmen gelesen und mit Versen aus den Klageliedern Jeremias verschränkt. Nach jedem Versgesang verlischt eine Kerze auf dem speziellen Leuchter, dem Tenebrario. Am Ende verlassen alle tastend das in Finsternis versunkene Gotteshaus.
Was für diesen Anlass komponiert worden ist, gehört zu den traurigsten und zugleich intimsten Musikstücken der Geschichte. Weil die Augen nichts sehen, sind die Ohren genauer. Wo Menschen blind werden, in sich versinken, weil Verzweiflung sie niederringt, schließt die Musik wieder auf, öffnet den Raum, führt zusammen, durchbricht die Finsternis.
Sie erinnern sich an das Bild des Kirchenraumes, in das ich sie eben hineingeführt habe, dessen Dimensionen nicht mit den Augen zu erfassen, aber durch die Töne zu erahnen sind. Was wir eben gehört haben und was wir in der Passionszeit nacherleben, berührt angesichts unserer eigenen Sterblichkeit und des traurigen Zustandes der Welt, wie wir sie prägen.
Ein Teil des Textes lehnt sich an eine Rede des Hiob (Hiob 16,17) an. Dieser widerspricht vehement einem Freund, der ihn mit dem Hinweis trösten wollte, alles sei vergänglich – auch diejenigen, die ihn nun gerade quälen würden. Und außerdem ginge es nicht nur ihm so. Schmerz und Trauer können solche klugen Reden nicht lindern. Und ein anderer Teil des Textes bezieht sich auf besagte Klagelieder Jeremias (Klgl 1,12). Der Schmerz und die Trauer, die in ihnen an dieser Stelle beschrieben wird, bezieht sich gar nicht nur auf persönlich erfahrenes Leid. Der Blick geht auf den Zustand Jerusalems, also der Gesellschaft und des Staates. Jeremia wird angst und bange ob deren Brüchigkeit. Schmerz und Trauer haben ihre Ursache bei ihm in der Weltbetrachtung, genauso aber auch in der persönlich erfahrenen Ablehnung gegen ihn, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Keiner will hören, was er deutlich ausspricht.
Beide – Hiob wie Jeremia – stehen in einem dunklen Raum, sehen kein Licht. Das Bild ist markant. Die Linien führen in unsere Zeit, in persönlich wie gesellschaftlich dunkle Räume. Wir gehen in der Passionszeit mit den Zeugen mit und stellen uns dem Leid. Lassen uns ein auf die bittere Konsequenz, die es hat, ein Mensch zu sein – mit enttäuschten Wertvorstellungen, mit einem quälenden Gewissen, mit einem brennenden Herzen. Selbst sterblich verbunden mit anderen Menschen, die sterblich sind.
Gehen wir noch einmal zurück zur Musik, die wir eben hörten. Zurück auch zu dem Bild, das ich gezeichnet habe vor dem Hintergrund ihrer liturgischen Funktion in einer besonderen Zeit des Kirchenjahres und einem besonderen Gottesdienst, der „Messe der Finsternis“. In die dunkle Kirche in der Passionszeit nähern wir uns dem Kreuz Jesu. Wir sehen es nicht, aber wir wissen davon. Jetzt erfassen wir die Weite des Raumes nicht, in dem wir stehen. Aber wir erinnern uns noch an den Tag, als die Sonne ihn durchflutete, die Fenster farbig strahlten, die Säulen weite Schatten warfen. Wir wissen, dass er größer ist, als wir jetzt erkennen können, wenn wir in Trauer und Angst sind. Jetzt scheint die Finsternis die Luft zum Atmen zu nehmen. Aber es ist dieselbe Luft, in der der Staub spielte, als am Morgen die Sonne den Raum durchflutete.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.