Motettenansprache
- 08.01.2022
- Pfarrerin Britta Taddiken
Motette am 8. Januar 2022
Johann Sebastian Bach: Mein liebster Jesus ist verloren
Kantate BWV 154 zum 1. Sonntag nach Epiphanias
1. ARIA (TENORE) Mein liebster Jesus ist verloren: o Wort, das mir Verzweiflung bringt, o Schwert, das durch die Seele dringt, o Donnerwort in meinen Ohren.
2. RECITATIVO (TENORE) Wo treff ich meinen Jesum an, wer zeiget mir die Bahn, wo meiner Seele brünstiges Verlangen, mein Heiland, hingegangen? Kein Unglück kann mich so empfindlich rühren, als wenn ich Jesum soll verlieren.
3. CHORAL Jesu, mein Hort und Erretter, Jesu, meine Zuversicht, Jesu, starker Schlangentreter, Jesu, meines Lebens Licht! Wie verlanget meinem Herzen, Jesulein, nach dir mit Schmerzen! Komm, ach komm, ich warte dein, komm, o liebstes Jesulein!
4. ARIA (ALTO) Jesu, lass dich finden, lass doch meine Sünden keine dicke Wolken sein, wo du dich zum Schrecken willst für mich verstecken, stelle dich bald wieder ein!
5. ARIOSO (BASSO) Wisset ihr nicht, dass ich sein muss in dem, das meines Vaters ist? Lukas 2:49
6. RECITATIVO (TENORE) Dies ist die Stimme meines Freundes, Gott Lob und Dank! Mein Jesu, mein getreuer Hort, lässt durch sein Wort sich wieder tröstlich hören; ich war vor Schmerzen krank, der Jammer wollte mir das Mark in Beinen fast verzehren; nun aber wird mein Glaube wieder stark, nun bin ich höchst erfreut; denn ich erblicke meiner Seele Wonne, den Heiland, meine Sonne, der nach betrübter Trauernacht durch seinen Glanz mein Herze fröhlich macht. Auf, Seele, mache dich bereit! Du musst zu ihm in seines Vaters Haus, hin in den Tempel ziehn; da lässt er sich in seinem Wort erblicken, da will er dich im Sakrament erquicken; doch, willst du würdiglich sein Fleisch und Blut genießen, so musst du Jesum auch in Buß und Glauben küssen.
7. ARIA (ALTO, TENORE) Wohl mir, Jesus ist gefunden, nun bin ich nicht mehr betrübt. Der, den meine Seele liebt, zeigt sich mir zur frohen Stunden. Ich will dich, mein Jesu, nun nimmermehr lassen, ich will dich im Glauben beständig umfassen.
8. CHORAL Meinen Jesum lass ich nicht, geh ihm ewig an der Seiten; Christus lässt mich für und für zu den Lebensbächlein leiten. Selig, wer mit mir so spricht: Meinen Jesum lass ich nicht.
Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Lukas 2,41-52)
41 Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. 42 Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes. 43 Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem, und seine Eltern wussten's nicht. 44 Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. 45 Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn. 46 Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. 47 Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten. 48 Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Kind, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. 49 Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist? 50 Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. 51 Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen gehorsam. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. 52 Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.
Liebe Gemeinde,
alle Eltern mit erwachsen werdenden Kindern kennen das. Den Schmerz, wenn das Kind das Haus verlässt. Damit haben alle irgendwie zu tun. Auch Maria und Josef mit ihrem 12jährigen Sohn. Ja, sie gehört noch zu Weihnachten, diese Geschichte des 12jährigen Jesus im Tempel: Sie gehört zum weihnachtlichen Geschehen der Menschwerdung Gottes mit allem, was dazu gehört. Auch der elterliche Schmerz gehört dazu, das „Schwert, das durch die Seele dringt“, so ist das beschrieben in der ersten Arie der Kantate. Und es gehört auch dazu, dass ein Mensch seinen Bezugspunkt im Leben findet, das, was seiner Bestimmung entspricht und was ermutigt und aufbaut. Für Jesus ist das die Verbindung mit seinem himmlischen Vater, mit Gott: „Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Auch das Unverständnis von Eltern gehört dazu, das Rätseln über das, was in ihren Kindern vorgehen mag und nach und nach die Einsicht: Sie müssen wirklich ihren Weg gehen. Ihren – nicht meinen. All das findet sich also in dieser weihnachtlich-nachweihnachtlichen Geschichte und wir merken, sie hat auch mit uns zu tun, ob wir nun Eltern sind oder nicht. Kinder zumindest waren und sind wir alle.
Bach bzw. sein uns noch unbekannter Textdichter nimmt diese Geschichte in seiner Kantate „Mein liebster Jesus ist verloren“ auf und führt sie noch weiter hinein in unsere allgemeine menschliche Erfahrung. Es passiert hier das, was jedem Menschen passieren kann: Sein „liebster Jesus geht verloren“. Einem kommt der Glaube abhanden, mein Halt, all meine Gewissheiten. Das kann Glaubenden passieren und auch denen, die sich selbst nicht als religiös bezeichnen. In dieser Kantate gerät einem Menschen sein Leben aus den Fugen. Nicht gänzlich oder durch ein einschneidendes Erlebnis, sondern eher schleichend. Dass man irgendwie merkt: Habe ich eigentlich noch festen Boden unter den Füßen? Was trägt mich eigentlich? Was will ich denn? So oder so ähnlich kommen diese Fragen wie in der Kantate „als Donnerwort“ an unser inneres Ohr und manche kommen sogar in die Situation, wie sie in der Altarie besungen wird: „Ich war vor Schmerzen krank, der Jammer wollte mir das Mark in Beinen fast verzehren“.
Die Gefahr dabei ist: Wo ich den inneren Halt meines Lebens verliere, können mir bereits schon wenige Abstriche am äußeren Halt meines Lebens zusetzen. Wir merken dann, wie dünnhäutig und empfindlich wir sind. Wie wenig tolerant und misstrauisch über anderen, die uns in ihrer Überzeugung so sicher und klar und stark entgegenzutreten scheinen. Ja, entgegen: Sobald wir uns selbst uns unseres Haltes nicht sicher sind, geschieht das schnell: Wir sehen andere als Bedrohung. Sie wecken Ängste in uns, meistens diffuse und wir reagieren entsprechend: diffus, abweisend und nicht gerade freundlich. Kein Wunder, denn es ist ja auch die Haltung in uns selbst in solchen Momenten der Unsicherheit: da sind wir auch diffus, empfindlich und unfreundlich zu uns selbst. Das verstärkt die inneren Leiden.
In der Kantate werden wir das in einem groß angelegten Spannungsbogen hören. Wo mir das Fundament fehlt, hat es die Verzweiflung mit mir leichter. So in der Arie „Jesu, lass dich finden“. Jesus ist weg – und der Bass des Orchesters ist es auch, nur ein Bassettchen vom Cembalo ist zu hören. Aber was heißt „nur“: Hier meldet sich vielleicht doch schon die Stimme der Hoffnung zu Wort. Das, was eben doch noch da ist, was uns eben doch Halt gibt und zumindest offene Ohren und Herzen für das, was wiederkommen kann. Das ist das, was in der Mitte der Kantate steht und zwar ganz profund, mit tiefer fester Stimme und auch voll und rund begleitet: „Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, das meines Vaters ist?“ Es ist die Stimme Jesu, die uns im wahrsten Sinne des Wortes zur Besinnung ruft. Dass wir uns innerlich oder auch äußerlich aufmachen an Orte, Stellen, Quellen, die uns Kraft und Orientierung geben können. Für Jesus sind es der Tempel und die Schriften, wo er die Nähe Gottes spürt, seine Verwurzelung mit Gott als dem Ursprung - die Beziehung, die so stark war, das man schon sehr früh in den christlichen Gemeinden von Jesus als „Sohn Gottes“ sprach. Aber genau das sind wir ja auch bzw. es ist das, was uns Jesus dann als Erwachsener nahelegt: Töchter und Söhne Gottes zu sein. Dass wir uns unmittelbar und unvermittelt zu Gott gehörig fühlen, dass er eben „Vaterunser“ ist – Vater aller Menschen und unser persönlicher Vater – und zugleich auch Mutter. Aber Gott ist mehr als beides und über alle menschlichen Konstellationen erhaben.
Aber eben: Mit jedem und jeder persönlich verbunden dadurch, dass er selbst Mensch geworden ist. Dass er selbst die Spannung unseres Lebens zwischen Suche nach Sinn, auch mitunter verzweifelter Suche, mit aller Ratlosigkeit und allem Unverständnis durchschritten hat sowie auch die Freude des Findens und der Erleichterung darüber, wie es ist, wenn man sich denn als von Gott gefunden fühlt. Oder wenn man wieder weiß, wo der Halt im Leben sitzt. Und dann die Seele wieder singen kann, wie Alt und Tenor am Ende der Kantate, oder sind es etwa Maria und Josef: „Wohl mir, Jesus ist gefunden, nun bin ich nicht mehr betrübt, der den meine Seele liebt, zeigt sich mir zu frohen Stunden.“ Mögen wir mit diesen frohen Stunden in diesem neuen Jahr 2022 reichlich beschenkt sein. Und mögen sie uns stark und mutig werden lassen für alle Herausforderungen, die auf uns warten.
Wir beten:
Gott, schenk uns Glauben, der in die Welt strahlt. Schenk uns Liebe, die fest steht gegen die Kälte um uns. Unser Leben, Gott, braucht dein Wort, damit es gelingt. Unser Glaube braucht deinen Geist, damit er nicht erstirbt und unsere Liebe deinen Trost. Schenke uns, was wir wirklich brauchen.
Vaterunser…
Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org