Motettenansprache

  • 23.03.2018
  • Pfarrerin Taddiken

Georg Philipp Telemann, Trauermusik „Du aber Daniel, gehe hin" (TVWV 4:17)

Liebe Gemeinde,
den ersten toten Menschen habe ich mit Anfang 20 gesehen. Ich war sehr erschrocken über das Endgültige, die Kälte, die Starre, über die Abwesenheit von Leben. Wir leben in einer Zeit, wo wir den Umgang mit dem Tod erst sehr viel später lernen als noch vor 60-70 Jahren. Gottseidank liegen bei uns keine Toten mehr auf den Straßen, erschossen, verbrannt, Opfer des Krieges. Gestorben wird heute in 70% der Fälle in Krankenhäusern und Heimen. Auf die Erfahrung dass der tote Großvater zuhause in der guten Stube aufgebahrt war, können wir in der Regel nicht mehr zurückgreifen. Dazu kommt, dass in einer Gesellschaft, die sich mit allen Mitteln verzweifelt gegen das Älterwerden wehrt und Schönheit und ewige Jugend als eines der höchsten Ideale betrachtet, der Tod als eine Art Betriebsunfall betrachtet wird. Oder aber, weil er uns medial in seiner hässlichsten Form naherückt, als etwas ganz Furchtbares. Wer mit Anfang 20 noch nie einen Toten gesehen hat, ist mit Bildern von toten Kindern und entstellten Kriegsopfern schlicht überfordert. Da hat man es viel schwerer, sein Verhältnis zu Sterben und Tod zu klären. Und kommt an seine Grenzen, wenn es einen dann im Familien-oder Freundeskreis selbst trifft. Dann sind wir zumindest weit weg von der Vorstellung der heutigen Kantate vom Tod als „Schlafes Bruder" oder vom „Land der guten Hoffnung", nach dem man sich sehnt, auf den man sich freut. Georg Philipp Telemanns Trauermusik, die die heutige Motette durchzieht, wird ihrerseits von diesem Gedanken durchzogen: vom Leben als Schifffahrt, wo man am Ende in Frieden anlegt. Bzw. mit ähnlichen Bildern, wo man es kaum erwarten kann, bis einen, wie es nachher im letzten Satz heißt, die Engel „aus des Leibes Jammerhöhle nach der Burg des Himmels" oder dass einen Jesus selbst auf Rosen weiden möge. Bilder aus der Barockzeit, wie wir sie auch aus Bachs Kantaten kennen. Bilder, die wunderbar sind, aber die einem auch vorkommen können, wie eine Vertröstung auf's Jenseits, mit deren Hilfe man die Augen vor der zuweilen grausamen Realität des Lebens und des Sterbens verschließt und aus ihr zu flüchten sucht.

Das aber liegt dieser Trauermusik fern. Im ersten Chor, der den letzten Satz des alttestamentlichen Danielbuchs vertont und der uns möglicherweise auch einen Hinweis auf den Namen des Verstorbenen liefert, für dessen Angehörige diese Musik zum Trost geschrieben ist. Da geht es darum, den Weg durch das Leben auf's Ende zu zu wagen. „Du aber Daniel, gehe hin, bis das Ende komme." Da wird einem die ganze Härte des Lebens zugemutet, angesichts derer man sich einerseits immer wieder aufbäumt und andererseits immer wieder nur seufzen mag. Die Kantate beginnt nicht damit, wie schön es im Himmel ist, sondern damit, dass sich jemand diesem Leben stellt und sich auf den Weg macht. Aber das geht nur „mit Freuden", wie es im folgenden Bassrezitativ heißt, wenn das Ziel auch klar ist. Das ist übrigens ein Grund dafür, dass die alte Tradition des Pilgerns für viele heute so attraktiv ist: weil man sich dort darauf besinnt oder wieder lernt, dass unser Leben ja ein Ziel hat, an dem man ankommen wird. Leben heißt, immer auch auf etwas zuleben - und nicht rast- und orientierungslos auf den Wellen herumzudümpeln, die heute hier und morgen dort geschlagen werden. Das Ziel ist hier klar: der Ort, wo wir von allem befreit sind, was uns bekümmert und beschwert. Das Land der guten Hoffnung, wo stete Ruh und Freude lacht - oder die Burg des Himmels, wie es in der abschließenden Sopran-Arie heißt. Die feste Aussicht darauf setzt bereits jetzt neue Lebenskräfte frei. Auch musikalisch ist im Laufe dieses Werks zu verfolgen, wie deutlich die Aussicht, Not und Sorgen einmal endgültig los zu sein sich bereits so auswirkt, dass man ihnen jetzt schon wesentlich gelassener gegenübersteht. Der Tod ist nicht der Betriebsunfall des Lebens, den ich nur in seiner Endgültigkeit, mit seiner Kälte und der Abwesenheit von Leben betrachten muss. Das allein muss er nicht bleiben, auch wenn er mir immer wieder zuzusetzen weiß. Er muss es nicht bleiben, wenn ich ihn wie in diesem Werk von Telemann als Moment am Ende meines Lebens zu sehen lerne, an dem mich Erfüllung erwartet: unbeschreibliche Ruhe, Schutz und vollkommene Freude. Das wird in den letzten beiden Sätzen besonders unterstrichen. Diese Musik ist purer Trost, der uns zum Leben gereicht und uns helfen möge, mit dem Tod versöhnt zu leben. Auch uns jetzt und hier, wenn wir diese alten Bilder in Musik gefasst auf uns wirken lassen. Amen.

Gebet
Unser Gott, wir bitten Dich: Stärke unser Vertrauen darauf, dass nichts uns von Dir trennen kann, auch nicht der Tod. Wenn er uns auch vom Leben trennt, so doch nicht von dir. Hilf uns, das immer wieder zu fassen wo uns der Tod eines Menschen nahekommt und verunsichert. In Jesus Christus bist Du uns auch in den Tod hinein nahe gekommen, damit er nicht mehr das letzte Wort über uns habe. Schenke uns offene Ohren und Herzen für diese Botschaft, die wir in den kommenden Tagen vor Ostern hören, dass sie uns stärken und gewiss machen, mit Dir verbunden zu bleiben alle Tage unseres Lebens und darüber hinaus. Darum bitten wir dich gemeinsam: Vaterunser...

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org