Motettenansprache

  • 17.03.2018
  • Pfarrerin Taddiken

Johann Sebastian Bach, Kantate BWV 159: Sehet, wir gehen hinauf nach Jerusalem

Liebe Gemeinde,
was mögen sie erwartet haben von Jesus - seine Jünger? Die Beseitigung der verhassten römischen Besatzungsmacht, eine Revolution, einen neuen König? Waren sie auch in den Köpfen der Jünger, diese Wunschmuster nach Veränderung der Verhältnisse? Vielleicht ist anders nicht zu erklären, was der Evangelist Lukas in dem der heutigen Bachkantate zugrundeliegenden Abschnitt erwähnt: Ihr totales Unverständnis über die bereits zum dritten Mal von Jesus gehörte Ankündigung seines Leidens, Sterbens und Auferstehens. „Sie aber begriffen nichts davon und der der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war." Deutlicher kann man's nicht sagen - sie blicken es schlicht nicht, die Jünger. Aber auch wir haben ja bisweilen andere Vorstellungen davon, wie jemand das Heft des Handelns in die Hand nehmen und dafür sorgen möge, dass die Verhältnisse sich ändern: Einen starken Mann, eine starke Frau, die notfalls auf den Tisch haut und sagt, wo es lang geht oder endlich mal aufräumt. Als Wunschtraum steckt das tief in uns drin - jedenfalls so lange, bis wir wieder einmal ernüchtert aufwachen und begreifen, dass man mit dieser Fähigkeit allein nicht allzu weit kommt oder andererseits gleich viel zu weit gehen kann.

Mit dem Weg Jesu hat es jedenfalls nichts zu tun. Um seinen Weg hinauf nach Jerusalem zu verstehen, gilt es, genauer hinzuschauen. Und so ist es ist kein Zufall, dass der Evangelist nach dem Hinweis auf die blinden oder durch ihre Erwartungshaltung verblendeten Jünger eine Gegengeschichte erzählt, die von einer tieferen Einsicht berichtet. Denn: Ausgerechnet ein Blinder sieht im Weg Jesu nach Jerusalem den Ausweg aus seinem erbärmlichen Leben, in dem ihm nur das Betteln bleibt. Mit aller Kraft schreit er um Hilfe. Er sieht die Chance, herauszukommen aus seinem Leben im gesellschaftlichen Abseits. Und wie immer, wenn das so ist, sind auch sofort all diejenigen da, die Leute wie ihn zum Schweigen bringen möchten. Ihr habt still zu sein und Euch zu fügen, stellt Euch still in die Reihe bei der Tafel, seid mit Eurem Hartz IV zufrieden und wie immer man das übersetzen mag. Die Zwischenrufe aus der Tiefe sind unangenehm, sie berühren uns bisweilen durchaus peinlich, auch in dieser Geschichte wollen ihn viele nicht hören. Aber da sind auch andere, die anhalten und dem nachgehen. Leute, die das Wort „Alternativlosigkeit" nicht in ihrem aktiven Wortschatz führen. Die ihm dabei aufhelfen, dass er wieder aus eigener Kraft für seine Bedürfnisse sorgen kann. Er tut es dann auch. Und Jesus bestätigt ihn. Es ist der Mut seines Glaubens, der ihm geholfen hat. Dass er es gewagt hat, aufzustehen vom Straßenrand - wenngleich mit unsicheren, tastenden Schritten. Aber eben getragen vom Vertrauen: Leid und Elend müssen nicht das letzte Wort haben - auch nicht in meinen Leben.

Und das entscheidet sich hier gerade auf dem Weg hinauf nach Jerusalem. Der Blinde erkennt, warum Jesus diesen Weg geht. Es ist nämlich eigentlich ein Weg in die Tiefe - zu Menschen wie ihm. Er geht den Weg ins Leid mit dem Ziel, es als bestimmende Macht in unserem Leben zu überwinden - und mit ihm all das, was uns jetzt daran hindert, als die zu leben, die wir eigentlich sind. Er ist der Sohn Davids, der am Elend und Leid der Menschen nicht vorbeigeht. Sondern es am Kreuz mit ihnen teilt und damit über all das das Urteil spricht, was Menschen einander anzutun in der Lage sind: brutale Gewalt, Verleumdung, Verachtung. Hier, am Kreuz, vollzieht sich im Sterben Jesu das Gericht Gottes darüber: „Das Leid ist alle".

So heißt es in der Bass-Arie von Bachs Kantate zum Sonntag Estomihi des Jahres 1729, seinem vielleicht letzten Werk vor der Aufführung der Matthäuspassion. Die Kantate hat den gleichen Duktus wie der Text aus dem Lukasevangelium: Da ist im einleitenden Arioso und Rezitativ von Alt und Bass das Unverständnis der Jünger zu hören, das nur wiederwillige „hinauf" nach Jerusalem, die immer wieder abbrechenden musikalischen Bewegungen nach oben und schließlich die eindringliche Bitte des Alts, die noch das komplette Unverständnis der Jünger Jesu wiederspiegelt: „Ach, gehe selber nicht hinein". Dann erst folgt wie bei Lukas die tiefere Einsicht in das, was im Weg Jesu hinauf bzw. zu uns hinab geschieht. Die folgende Arie ist durchdrungen von Paul Gerhardts Choralstrophe „Ich will hier bei dir stehen, verachte mich doch nicht". Mit Jesus, mit Gott im Leiden zusammenzustehen - das geht, weil er zu mir kommt, sich mit mir und meiner Geschichte verbindet mit Haut und Haar, Gott und Mensch verbinden, verzahnen sich wie die beiden Stimmen in Arie und Choral.

Kein Ort auf dieser Welt also muss mehr einsam und gottlos sein - das ist nach und nach auf dem Weg Jesu nach Jerusalem zu erkennen. Dass er dabei schon längst zu denen unterwegs ist, die sich noch in ihrem „Winkel grämen", wie es im folgenden Tenorrezitativ heißt - und sich nicht an ihren Tränen laben, wie es hier gesungen wird, sondern daran vielmehr zu ersticken drohen: All die vielen Trauernden, Geflohenen, Gepeinigten, Gedemütigten. All denen, denen das fehlt, worauf es in dieser Kantate alles hinausläuft: die Perspektive der Erlösung, der Wende des Leids. „Es ist vollbracht, das Leid ist alle".

Es ist eben nicht der bloß politische Umsturz, die Revolution der kleinen Leute oder was auch immer, den Jesu Weg nach Jerusalem zum Ziel hatte. Es geht nicht darum, die hiesigen Herrschaftsverhältnisse umzukrempeln. Nein, es ist die Wende des ganzen Weltgeschehens: Dass sich das Leben gegen den Tod durchsetzt, die Liebe gegen den Hass, der Trost gegen die Verzweiflung, der Durchblick gegen die Blindheit. Von allem Hadern mit dem eigenen Kreuz befreit zu werden zu dankbarem Leben und Handeln. Vom mühsam erscheinenden ewigem Bergauf hin zu fröhlich eilenden Schritten der Seele, die auf Rosen geht. Mit diesem schon österlich gewandelten Blick, mit dem die Kantate schließt, lassen wir uns ein auf den Weg Jesu hinauf nach Jerusalem.
Wir beten:
Unser Gott und Vater, wir kommen vor Dich mit all dem Guten, was wir in dieser Woche erleben durften und für das wir Dir danken. Wir bringen aber auch unsere Last mit und das, was uns bedrückt: Wir bitten Dich um Kraft und Geleit, mit allem Schweren in unserem Leben umgehen zu können. Schenke uns die Gewissheit, dass Du darin an unserer Seite bist und dass Dein Weg geradewegs auf uns zuführt. Im Vertrauen auf Deine Barmherzigkeit beten wir mit den Worten Jesu: Vaterunser...

Vaterunser...
Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org