Motettenansprache

  • 03.03.2018
  • Pfarrerin Taddiken

Johann Sebastian Bach: Kantate BWV 23, Du wahrer Gott und Davids Sohn
Jesus nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. 32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, 33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. 34 Sie aber verstanden nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie begriffen nicht, was damit gesagt war.

35 Es geschah aber, als er in die Nähe von Jericho kam, da saß ein Blinder am Wege und bettelte. 36 Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre.37 Da verkündeten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorüber. 38 Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 39 Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er sollte schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 40 Jesus aber blieb stehen und befahl, ihn zu sich zu führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: 41 Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. 42 Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. 43 Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.

Liebe Motettengemeinde,
"Du wahrer Gott und Davids Sohn", die Kantate, die wir jetzt gleich hören - sie ist eine der beiden Bewerbungskantaten Bachs für das Thomaskantorat aus dem Frühjahr 1723. Und in der Tat: Sie ist besonders. Nicht nur musikalisch betrachtet, sondern auch und gerade darin, wie sie den ihr zugrundeliegenden biblischen Text der Heilung eines Blinden verarbeitet, wir haben ihn eben gehört.

Schon im ersten Satz ziehen Bach und sein uns unbekannter Textdichter diese Geschichte mitten hinein in unser Leben: „Du wahrer Gott und Davids Sohn, der du von Ewigkeit in der Entfernung schon mein Herzeleid und meine Leibespein umständlich angesehen, erbarm dich mein." Der Erzähler geht in die Rolle des Blinden und nimmt uns mit in sie hinein. Sofort wird dabei deutlich: Es ist der Blinde, der bei diesem Geschehen den Durchblick hat. Als einziger. Die Jünger reagieren bereits zum dritten Mal mit Unverständnis darauf, dass Jesus ihnen sagt, dass er leiden und sterben wird. „Sie aber verstanden nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie begriffen nicht, was damit gesagt war", heißt es im Lukasevangelium. Weniger kann man nicht verstehen!

Der Blinde dagegen erkennt, was dieser Weg hinauf nach Jerusalem soll. Es ist nämlich eigentlich ein Weg in die Tiefe - zu Menschen wie ihm. Er erkennt, dass sich in diesem Weg Jesu der Ausweg aus seinem eigenen erbärmlichen Leben auftut, in dem ihm nur das Betteln bleibt. Mit aller Kraft ruft er um Erbarmen und sieht die Chance, herauszukommen aus seinem Leben im gesellschaftlichen Abseits.

Dabei geht es noch gar nicht darum, äußerlich wieder sehen zu können. Sondern es geht um die Bitte, gesehen zu werden in dieser Situation. Das nimmt Bach auf in dem ungeheuer anrührenden Duett von Alt und Sopran. Es geht ihm nicht um die einzigartige Heilung eines einzelnen oder um eine besondere Wundertat Jesu. Sondern Bach nimmt auf, was uns Menschen alle immer wieder bewegt. Situationen, Momente, wo wir verzweifelt nach Trost, Halt und Hilfe suchen. Wo wir müde sind, resigniert oder merken: Hier kann ich mich nicht selbst am Schopf packen und herausziehen. Wo wir merken: Ich brauche ein Gegenüber!

Im folgenden Rezitativ des Tenors unterstreicht Bach, wie sehr er das als grundlegende Erfahrung des Menschen ernstnimmt. Er unterlegt die sehnsuchtsvoll vorgetragene Bitte um Nähe „Ach! Gehe nicht vorüber, Du aller Menschen Heil" mit der Melodie des Chorals: „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, Erbarm dich unser!"
Hier klingt es an: Dieser Choral ist das Leitmotiv der Kantate, das sowohl im folgenden Chor auftaucht als auch im Schlusschoral. Und auch theologisch ist damit das Thema gesetzt: Die Bitte um Erbarmen. Die Bitte des Menschen, in seinem Gefühl der Unfähigkeit, etwas tun oder verändern zu können, nicht allein gelassen zu sein. Wie schnell solche Gefühle und damit verbundene diffuse Ängst verselbständigen und in Hass und Gewalt gegenüber denjenigen umschlagen können, die als Sündenböcke gefunden und verantwortlich gemacht werden, das wissen wir. Es geschieht meistens dort, wo sie nicht formuliert, wo sie nicht ausgesprochen werden - und auch kein wirklicher Adressat da ist, kein Gegenüber. Auch hier ist in dieser Kantate der Blinde der Sehende. Er erkennt, dass seine persönliche Not nicht das letzte Wort über ihn haben muss. Er kann sich daraus zwar nicht selbst befreien, aber deshalb muss er sich noch lange nicht abfinden mit Blindheit und Leid auf dieser Welt. So heißt es weiter im Tenorrezitativ: „Ich sehe dich auf diesen Wegen, worauf man mich hat wollen legen, auch in der Blindheit an."

Das ist das, was der Blinde im Weg Jesu hinauf nach Jerusalem erkennt. Den Weg in die Tiefe - zu Menschen wie ihm. Jesus geht den Weg ins Leid mit dem Ziel, es als bestimmende Macht in unserem Leben zu überwinden - und mit ihm all das, was uns jetzt daran hindert, als die zu leben, die wir eigentlich sind. Und so ist in dieser Geschichte die ganze Passionsgeschichte schon vorweggenommen: Sowohl der Ruf der Menge „Hosianna"-„Hilf doch" als auch das Bekenntnis des römischen Hauptmanns unter dem Kreuz: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen". Es ist der Blinde, der es blickt: Er sieht Weg Jesu, dass Gott selbst am Elend und Leid der Menschen nicht vorbeigeht. Sondern dass er in seinem Kreuz den Teufelskreis der Verbindung von Hass und Gewalt durchbricht und den von uns Menschen aufgebauten Sündenbockmechanismen widerspricht. All das also, was uns blind macht und manchmal gar blindwütig. Mit seinem Weg in Leid und Tod ergeht das Urteil über das, was Menschen einander anzutun in der Lage sind an Verleumdung und Verachtung.

Das erkennt der Blinde als erster - vor den vermeintlich Sehenden. Es macht ihn fähig zu handeln und nicht mehr nur wie gelähmt am Straßenrand zu sitzen. Und vor allem: Es befreit ihn erst einmal aus der Umklammerung von Traurigkeit und Depression. Im folgenden Chor „Aller Augen warten auf Dich" ist das deutlich zu hören, fast tänzerisch geht es dort zu bei dieser Bitte um Kraft und Licht - und damit um neuen Durchblick im Leben. Das lag Bach 1723 offensichtlich am Herzen, seiner Gemeinde das mit auf den Weg zu geben in bewegten Zeiten. Und vielleicht, nein hoffentlich, erreicht er damit auch uns in unserer bewegten Zeit.

Wir beten:
Unser Gott und Vater, wir kommen vor Dich mit all dem Guten, was wir in dieser Woche erleben durften und für das wir Dir danken. Wir bringen aber auch unsere Last mit und das, was uns bedrückt: Wir bitten Dich um Kraft und Geleit, mit allem Schweren in unserem Leben umgehen zu können. Schenke uns die Gewissheit, dass Du darin an unserer Seite bist und dass Dein Weg geradewegs auf uns zuführt. Im Vertrauen auf Deine Barmherzigkeit beten wir mit den Worten Jesu: Vaterunser...

Britta Taddiken, taddiken@thomaskirche.org