Motettenansprache

  • 02.03.2018
  • Pfarrerin Taddiken

Johann Sebastian Bach, Motette für fünfstimmigen Chor „Jesu, meine Freude" BWV 227

Liebe Gemeinde,
manchmal müssen Dinge im Leben erst mal vor den Baum gehen, bevor wir bei uns etwas verändern. Leider. Ein Kind muss erst überfahren werden um die Geschwindigkeitsbegrenzung vor der Schule durchzusetzen. Wie viele durchgedrehte Jugendliche müssen noch um sich schießen, bis begriffen wird, dass mit den Waffengesetzen etwas nicht stimmen kann? Und leider muss man ja manchmal erst gesundheitlich einen Schuss vor den Bug bekommen um sich zu fragen: Wie lebe ich im Moment - und wie will ich eigentlich leben?
Um Fragen wie diese geht es in Bachs Motette „Jesu meine Freude". Ihr Text stammt aus dem Römerbrief im Neuen Testament. und dort unterscheidet der Verfasser dieses Briefs, der Apostel Paulus, zwei Lebenszugänge: der eine ist das Leben „nach dem Fleisch" oder „fleischlich gesinnt sein". Das hat man lange moralisch oder gar sexualfeindlich verstanden, gemeint aber ist etwas anderes. Es ist der Versuch, sich selbst zu genügen, sich selbst zu retten, Garant seiner selbst zu sein, sein Leben ausschließlich aus eigener Kraft, nur auf Basis eigener Ansichten zu gestalten.

Das bringt nach Paulus den Tod und es führt den einzelnen in die Isolierung seiner selbst. Er empfiehlt einen anderen Lebenszugang, er nennt ihn „Leben im Geist". Ihr seid „geistlich", sagt er, ihr habt Gottes Geist in Euch, der lebendig macht. Du bist mit dem, was du bist, nicht nur deine eigene Errungenschaft. Und vor allem bist Du nicht nur das Fragment, als das Du Dich spätestens in manch schlafloser Nacht selbst empfinden magst: mit deinem Scheitern und Versagen, mit all deiner Halbheit, mit all deinem Hinterherhecheln hinter den selbstgesteckten Zielen - oder im Gegenteil mit deiner Orientierungslosigkeit in der Frage, was Du mit deinem Leben eigentlich willst, wo es eigentlich hingeht und so weiter und so weiter.

Die meisten von uns kennen all diese Fragen und Selbstzweifel, die einen nicht schlafen lassen. Wer aus dem Geist lebt, der unserer Schwachheit aufhilft, wie es einige Verse später heißt, kann aber angesichts dessen aber vielleicht gelassener werden und zu der Einsicht kommen, zu der Paulus seine Leser mit diesem Kapitel bringen will: Hör auf mit diesem Gerenne. Das, was Du suchst, es ist längst da. Wir sind schon sind die, die wir gerne sein wollen: geliebte, anerkannte Menschen, so wie wir sind. Vor Gott sind wir das schon.

Demnach wäre es eigentlich sehr einfach, mit diesem Lebenszugang zu leben: „Leben im Geist" statt „Leben im Fleisch". Aber so lange es uns gut geht, wir alles im Wesentlichen im Griff haben und erfolgreich sind, bevorzugen wir ganz offensichtlich das Leben im Fleisch. Wir sehen uns unser Leben an und denken: Das ist doch ganz O.K. so - und so lange nichts dazwischen kommt, scheint auch alles O.K. Erst, wenn sich etwas einstellt, was uns den Spiegel vorhält: dass wir über unsere körperlichen und seelischen Kräfte gehen, dass wir auf Kosten unserer Kinder und Familienmitglieder leben, dass wir vielleicht süchtig sind nach was auch immer - erst dann kommt sie meistens, die Frage: Wie will ich eigentlich leben? Und erst dann gehen wir meistens den anderen Weg. Der Lebenszugang „aus dem Geist" hat dabei heilende, weil relativierende Kraft: Er stellt vieles in Frage, was sich in dieser Welt als so gravitätisch und unumstößlich gibt: das Streben nach Wohlstand, nach Erfolg genauso wie festgefahrene Institutionen, Personen, Lehren, die sich als substantiell notwendig ausgeben. Leben aus dem Geist schafft Distanz, auch zu den Meinungen und Haltungen, die sich in mir selbst verfestigt haben. Aber es hat eben auch zu tun, sich aus der Hand zu geben. Dem zu trauen, was in kirchlicher Sprache „Gnade" heißt: dem von Gott uns zugesprochenen Frieden zu trauen.

In welchem Geist will ich mein Leben leben? Was ist wirklich wichtig? Als geistlich-fleischliche Menschen, die wir immer bleiben werden, werden wir mit diesen Fragen ein Leben lang beschäftigen. Es ist nicht das Schlechteste, es auch und gerade mit Hilfe dieser Motette von Bach zu tun. Amen.

Gebet
Unser Gott, am Ende dieser Woche kommen wir zu Dir mit allem, was wir erlebt haben. Wir danken Dir für alle Freude und für alle guten Begegnungen, die wir gehabt haben. Wir danken Dir für alle Impulse, die wir daraus bekommen haben und die wir mitnehmen. Manches hat uns aber auch verunsichert - und manche Begegnung mit anderen hat uns auch ratlos gemacht. Wir bitten Dich um offene Herzen und Sinne, dass wir zum Guten für alle weiterkommen können. Hilf uns, dass wir uns immer wieder auch auf das konzentrieren können, was uns trägt und voranbringt. Mach uns wachsam dafür, dass es uns im Betrieb und Lärm unseres Alltags nicht untergeht. Sei Du mit deinem Heiligen Geist in unserer Mitte, hilf uns, zu uns selbst, zu den anderen und zu Dir zu kommen. Im Vertrauen auf Deine Barmherzigkeit beten wir gemeinsam mit den Worten Jesu:
Vaterunser...

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org