Motettenansprache

  • 23.02.2018
  • Pfarrer i. R. Christian Wolff

Unerschrocken waren sie, furchtlos auch - die jungen Frauen und Männer, die sich Mitte 1942 zur Widerstandsgruppe „Die Weiße Rose" zusammengeschlossen hatten. Gestern vor 75 Jahren, am 22. Februar 1943, wurden die Geschwister Hans und Sophie Scholl sowie der Student Christoph Probst von den Nazis ermordet; Willi Graf, Alexander Schmorell und der Münchner Professor Kurt Huber wurden später hingerichtet. Zuvor waren sie vor dem Volksgerichtshof durch den brutalen, immer kreischenden vorsitzenden Richter Roland Freisler zum Tode verurteilt worden. Früher als viele andere hatten die Mitglieder der „Weißen Rose" den verbrecherischen Ansatz der nationalsozialistischen Ideologie durchschaut und erhoben Protest gegen die Judenvernichtung und Hitlers sinnlosen Angriffskrieg. In Stalingrad waren diesem Hunderttausende Soldaten zum Opfer gefallen. Unmissverständlich und in schmerzender Klarheit entlarvten die Studierenden in ihren Flugblättern das Nazi-Regime in seiner terroristischen Obszönität:
Jedes Wort, das aus Hitlers Mund kommt, ist Lüge. ... Mit mathematischer Sicherheit führt Hitler das deutsche Volk in den Abgrund.
In ihrem letzten Flugblatt analysierten sie:
Eine Führerauslese, wie sie teuflischer und zugleich bornierter nicht gedacht werden kann, zieht ihre künftigen Parteibonzen auf Ordensburgen zu gottlosen, schamlosen und gewissenlosen Ausbeutern und Mordbuben heran, zur blinden stupiden Führergefolgschaft. ... Für uns gibt es nur eine Parole: Kampf gegen die Partei! ... Es geht uns um wahre Wissenschaft und echte Gewissensfreiheit!

Den Ausgangspunkt ihres Widerstands und ihrer politischen Forderungen nach Freiheit, nach der Wiederherstellung der Ehre Deutschlands, nach Demokratie sahen sie im christlichen Glauben:
Wohl ist der Mensch frei, aber er ist wehrlos wider das Böse ohne den wahren Gott, er ist wie ein Schiff ohne Ruder, dem Sturm preisgegeben, wie ein Säugling ohne Mutter, wie eine Wolke, die sich auflöst. Gibt es, so frage ich Dich, der Du ein Christ bist, gibt es in diesem Ringen um die Erhaltung Deiner höchsten Güter ein Zögern, ein Spiel mit Intrigen, ein Hinausschieben der Entscheidung ... ?
Damit knüpfte „Die Weiße Rose" in ihrem 4. Flugblatt an die Grundüberzeugungen an, die Inhalt der Gesänge der heutigen Motette sind. Sie nehmen ihren Ausgang in der Gewissheit, dass wir Menschen - und zwar ausnahmslos - Geschöpfe des einen Gottes sind und deswegen - wie Sophie Scholl im Blick auf das Euthanasie-Programm bemerkte - „jedes Menschenleben ... kostbar (ist)".

Gottvertrauen, die biblischen Maßstäbe des Lebens, Jesu Botschaft von der Barmherzigkeit, von der Feindesliebe, von der Ehrfurcht vor dem Leben vermittelten den jungen Menschen der Weißen Rose das Fundament, von dem aus sie das ins Maßlose gesteigerte Unrecht des Naziregimes erkennen und brandmarken konnten. Doch nicht nur das: Mit diesem Gottvertrauen konnten sie aller Verzweiflung und allem Kleinmut widerstehen:
Hat Dir nicht Gott selbst die Kraft und den Mut gegeben zu kämpfen? Wir müssen das Böse dort angreifen, wo es am mächtigsten ist, und es ist am mächtigsten in der Macht Hitlers.
Der Glaube als doppelte Quelle: die des Widerstands und des Trostes. In einer Tagebuchnotiz vom August 1942 bemerkte Hans Scholl:
Wenn Christus nicht gelebt hätte und nicht gestorben wäre, gäbe es wirklich gar keinen Ausweg. Dann müsste alles Weinen grauenhaft sinnlos sein. Dann müsste man mit dem Kopf gegen die nächste Mauer rennen und sich den Schädel zertrümmern, so aber nicht.
Ja, der Glaube verleiht - ganz im Gegensatz zu manchem Vorurteil - unserem Denken Klarheit und bewahrt uns vor blindwütiger Raserei. Darum konnten die Mitglieder der „Weißen Rose" ihren Kopf hochhalten. Das geschah auch in dem Verhör, dem sich Sophie Scholl nach ihrer Verhaftung unterziehen musste. Dieses wird in dem großartigen Film „Sophie Scholl" eindrucksvoll dargestellt. Sophie Scholl stellt den Nazi-Parolen des Gestapo-Beamten Robert Mohr das entgegen, woraus sie ihre Standhaftigkeit zieht: „Sitte, Moral und Gott". Mohr zischt ihr wütend-hilflos entgegen:
Gott - gibt es nicht.

Menschen versammeln sich Woche für Woche zu Gottesdiensten oder zu den Motetten, um sich darin gewiss zu werden: Gott ist gegenwärtig; er erweist sich als eine feste Burg, als ein sicheres Zuhause in einer aus den Fugen geratenen Welt. Er ruft uns in die Verantwortung und schärft die Gewissen. Durch die biblische Botschaft sind die Maßstäbe eines sinnvollen, moralisch gebundenen Lebens für jeden abrufbar. Mehr noch: Wir verdanken dem jüdischen Erbe unseres Glaubens
die Botschaft von der Friedfertigkeit, von der Erhaltung des schwachen und gekränkten Lebens, von der Notwendigkeit der Diskussion und des Kompromisses.
so der Publizist Carl Amery. Diese Botschaft wollten die Nazis ausmerzen. Das ist der tiefe Grund ihres Vernichtungskampfes gegen das Judentum, gegen Christenmenschen wie die Geschwister Scholl, die sich diesen auch christlichen Grundwerten verpflichtet fühlten.

Machen wir uns nichts vor: Diese Grundwerte sind auch heute gefährdet - nicht zuletzt durch neuheidnische Machenschaften in der rechtsradikalen Szene. Was sich am Aschermittwoch bei einer Kundgebung der sächsischen AfD in Nenntmannsdorf bei Pirna ereignet hat, musste einem wie ein „Remake" einer Nazi-Veranstaltung aus den 30er Jahren erscheinen. Über Tausend Menschen johlten den rassistischen Parolen eines Björn Höcke oder André Poggenburg zu. Mit den Hasstiraden wollen diese Herren offensichtlich den Boden für neue Kriegsbereitschaft bereiten (Flüchtlinge sind in ihren Augen „feindliche Invasoren", mit denen man sich quasi in einem Kriegszustand befindet). Darum führen sie einen militanten Kampf gegen Bevölkerungsgruppen wie die türkischen Bürgerinnen und Bürger und betreiben systematisch ein Ende der kulturellen und religiösen Vielfalt. Wir sollten nicht den Fehler begehen, dieses AfD-Auftreten als unappetitliche Politfolklore abzutun. Wir sollten das sehr ernst nehmen. Denn es ist Ausfluss dessen, was von Rechtsradikalen und der AfD immer unverhohlener gefordert wird: „Schluss mit dem Schuldkult". Was bedeutet das anderes, als bruchlos und unbeschwert anknüpfen zu können an die Zeit nationalistischer Verblendung und das Gedenken an die Opfer dieses Terrorregimes zum Erliegen zu bringen. Dem kann man nur den Satz aus dem „Aufruf an alle Deutschen" der „Weißen Rose" entgegenstellen:
Trennt Euch rechtzeitig von allem, was mit dem Nationalsozialismus zusammenhängt.
Das gilt auch heute! Eine solche Trennlinie können wir da ziehen, wo wir weiter von Schuld sprechen und unser Tun und Lassen vor Gott verantworten. Denn wer nicht mehr ein „Kyrie eleison", ein „Herr, erbarme dich" über die Lippen bringt, der duldet keinen Einspruch gegen sein Handeln - und sei es noch so schändlich. Wir tun gut daran, jeden Tag neu diesen Einspruch zu hören - einen Einspruch, der mit jedem Gesang in dieser Motette erhoben wird. Dieser Einspruch beinhaltet aber gleichzeitig, dass wir uns auf die Menschenfreundlichkeit Gottes einlassen, auf seinen Schutz, seinen Trost, seine Wegweisung verlassen können. Amen.


Gebet

Gott, unser Vater,
Wir danken dir,
dass wir in deinem Schutz geborgen sind.
Wir danken dir,
dass du uns Maßstäbe sinnvollen Lebens schenkst.
Darum bitten wir dich,
lass uns in jedem Menschenleben
unseren Bruder und unsere Schwester erkennen.
Lass uns nicht gleichgültig werden,
wenn Hass und Hetze,
Rassismus und Menschenverfeindung um sich greifen.
Lass uns nicht abstumpfen
angesichts der unfassbaren Gewalt,
mit der Kriege geführt werden.
Lass uns auf Jesu Liebe vertrauen.
Mit seinen Worten beten wir:
Vater unser im Himmel ...


Christian Wolff, Pfarrer i.R., info@wolff-christian.de ,www.wolff-christian.de