Motettenansprache

  • 10.02.2018
  • Pfarrer i.R. Christian Wolff

Georg Christoph Biller (*1955, Thomaskantor 1992-2015)
Botschaften Jesajas
für vier- bis sechsstimmigen Chor und Bassinstrument (ad lib.), 2015

Johann Sebastian Bach (1685-1750, Thomaskantor 1723-1750)
Jesus nahm zu sich die Zwölfe
Kantate zum Sonntag Estomihi, BWV 22

Wie zwangsläufig ist Geschichte? Gibt es so etwas wie eine Vorherbestimmung alles Seins? Wurde schon vor aller Zeit festgelegt, welches Ziel meiner Existenz gegeben ist und wie der Weg dahin aussieht? Immer dann, wenn wir uns Krisen ausgeliefert sehen, die sich unserem Leben quer in den Weg stellen und den Alltag von einem Augenblick zum andern dramatisch verändern, werden diese und ähnliche Fragen aufgeworfen: Warum die Krankheit, der Verlust, der Misserfolg? Warum trifft es gerade mich? Bin ich noch Akteur des Geschehens oder doch nur hilflose Marionette, an der anonyme Mächte herumzerren?

Auch wenn wir uns nur selten offen mit solchen Fragen auseinandersetzen - die meisten unter uns kennen sie und wissen, wie schnell wir sie beiseiteschieben. Maler, Schriftsteller, Komponisten helfen uns, das Verdrängte offenbar zu machen. Sie schenken unserer Sprachlosigkeit Worte, dem Blick in die Leere Bilder, Gefühlsaufwallungen Klang und Harmonie, machen aus Worten Botschaften. So verhält es sich auch mit der Komposition Billers „Botschaften Jesajas", deren Uraufführung wir gerade erlebt haben. Ausgelöst wurde die Komposition durch den Brief eines Thomaners, der Georg Christoph Biller während seines Klinikaufenthaltes 2014 erreichte. In dem Brief versuchte der Thomaner seinen Thomaskantor mit einem Wort aus dem Prophetenbuch des Jesajas in schweren Zeiten zu ermutigen:
... die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren wie Adler, laufen und nicht satt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Jesaja 40,31
Hier wird weder eine Schicksalsergebenheit beschworen, noch ist von einem rückwärtsgewandten Rechten die Rede. Hier wird ein Fenster in Richtung Zukunft geöffnet. Unabhängig davon, welchen Schicksalsschlägen wir ausgesetzt sind und worin diese ihre Ursache haben mögen: Gottvertrauen ermöglicht uns Menschen neue Perspektiven, lässt uns nicht ausschließlich über das Gewesene sinnieren, befreit Geschichte von Naturgesetzlichkeiten. Biller hat sich davon anstecken lassen. Bei einem nächsten Klinikaufenthalt hat er die Vertonung des einen Verses zu „Botschaften Jesajas" ausgebaut.

Damit ist er auch einem Missverständnis entgegengetreten: Die Botschaften Jesajas haben nichts mit Beschwichtigungen zu tun - nach dem Motto: wird schon werden. Nein, Gottvertrauen und Furchtlosigkeit lassen uns auch das in den Blick nehmen, was in unserem Leben, auf dieser Welt falsch läuft. Gottvertrauen und Furchtlosigkeit lassen uns die Widersprüche erkennen und ertragen. In zweifacher Weise werden diese in der Komposition als „Warnung" und „Wehrufe" thematisiert:
• Die Überwindung von Unterdrückung, die Befreiung von Diktatur und Bevormundung bedeuten nicht, dass das Reich Gottes auf Erden errichtet wird. Vielleicht haben einige es herausgehört: Biller zitiert im Teil III die DDR-Hymne
Denn so geht es zu auf Erden
Damit deutet er an: Auch wenn „der Stock ... zerbrochen ist" - Menschen geschieht weiter Unrecht, leiden weiter unter Krankheit und Tod. Doch nichts davon ist zwangsläufig und nichts wird dadurch entwertet.
• Der andere Widerspruch: Auch heute werden die Umwertung der Werte oder eben Fake-News propagandistisch eingesetzt, um „Böses gut und Gutes böse (zu) nennen". Denken wir nur daran, wie mitmenschliches Engagement als „Gutmenschentum" verhöhnt und uns nach wie vor eingetrichtert wird, man könne mit Krieg Frieden schaffen. Dieser Moralismus ohne Moral ist ein Übel. Biller schreibt dazu in seinen Erinnerungen „Die Jungs vom hohen C":
Wie zeitgemäß diese Botschaft ist, hat ... die allgemeine Beunruhigung durch immer neue Terroranschläge in der Welt auf erschreckende Weise deutlich gemacht.
Ja, die Botschaft Jesajas macht deutlich: Nur dadurch, dass wir uns durch Gottvertrauen beflügeln und damit all das, was unser Leben bedroht, unter uns lassen, werden wir wieder Boden unter die Füße bekommen, kann auch der Schwache stark, der Müde wach werden, können wir mit den Brüchen leben. Geschichte ist eben keine Abfolge von Zwangsläufigkeiten und Zufällen, durch die sich der Stärkere, das Überlegene und schließlich das Böse durchsetzen.

Wenn wir das so sehen können, werden wir auch nicht mehr so ratlos vor dramatischen Ereignissen stehen wie die Jünger, als Jesus ihnen eröffnet, dass er seinen Leidensweg antritt. Das ist das Thema der Kantate „Jesus rief zu sich die Zwölfe". Da ist auf der einen Seite Jesus. Er weiß offensichtlich genau, was ihm in Jerusalem bevorsteht. Ihm gegenüber stehen die Jünger, die noch nicht begreifen können, wohin sie die Geschichte führt. Sie wollen auch nicht einsehen, dass Jesus in einer erschreckend anmutenden Zwangsläufigkeit in sein eigenes Verderben rennt. Nach Jerusalem gehen - was für Jesus die Vollendung seines Weges ist, bedeutet für die Jünger eine Katastrophe. Wir begegnen mit der Kantate genau dem Punkt, an dem die Geschichte zwischen Jesus und uns Menschen auseinander bricht - so wie Jesaja mit seiner Botschaft ansetzt beim Bruch zwischen Gott und Mensch. Die Jünger verstehen nicht, dass das zu Ende gehen soll, was so hoffnungsvoll begann. Sie verstehen nicht, warum vor der neuen Welt Gottes, die Jesus ihnen verheißen hat, die Katastrophe, der Zerfall und das Zerbersten stehen ollen. Sie verstehen nicht, warum Jesus erst durch die Hölle muss, um in den Himmel zu gelangen.

So wenig wie die Jünger begreifen auch wir unsere Lebenswege - vor allem dann, wenn durch das, was wir uns vorgenommen haben, ein Strich gezogen wird. Aber liegt dieses Unverständnis nicht darin begründet, dass wir hinter dieser Welt nichts mehr vermuten? Dass wir mitten in einer Lebenskrise nicht mehr mit einem neuen Aufbruch rechnen? Gottvertrauen keine Kategorie unseres Denkens und Glaubens ist? Aber was kann dann noch kommen, wenn Zukunft schon als vergangen gilt und Entwicklung als beendet erklärt wird, ehe sie beginnt - außer Lähmung? Ist es nicht dieser selbstgenügsame Stillstand, dieses Leben ohne Zuversicht und Hoffnung, die derzeit unsere Gesellschaft in den Zustand einer müde-verbitterten Unzufriedenheit, mehr noch: eines lustlos-militanten Verdrusses versetzen - ein Verdruss, der sich im Netz zumeist als braune Brühe über unsere Wirklichkeit ergießt?

Die Jünger dachten, Jesus würde der Geschichte, unter der sie litten, ein Ende bereiten und sie bräuchten sich nicht mehr um ihre Zukunft zu kümmern. Stattdessen werden sie Zeugen davon, dass Jesus sich nicht aus der Geschichte heraus begeben will, sondern noch einmal ganz in sie eintaucht. Mehr noch: Er liefert sich der Welt, den Menschen und Mächten aus, ohne selbst in das Geschehen einzugreifen. Die Leidensgeschichte Jesu bekommt so den Anschein der Zwangsläufigkeit - mit einem Unterschied: Wir hadern mit dem Leiden, mit dem Tod, mit dem Ende, glauben nicht mehr an Brüche, an Zukunft. Jesus aber nimmt das Leiden auf sich, weil alle scheinbare Zwangsläufigkeit durch die Auferstehung durchbrochen werden wird. Damit werden Furchtlosigkeit und Gottvertrauen ins Recht gesetzt, und uns ein hoffnungsvolles, zuversichtliches Leben ermöglicht - mitten in einer zerberstenden, zerfallenden Welt.


Gebet
Gott, unser Vater,
wir danken dir,
dass wir dir vertrauen
und dadurch zu neuer Gewissheit
gelangen können.
Schenke Du unserem Leben
in Freude und Leid die Wendungen,
die durch Jesus Christus
möglich geworden sind.
Befreie uns so von allen
Lebensängsten
und lass uns zuversichtlich
auf dein gegenwärtiges Wirken hoffen.
Mit Jesu Worten beten wir:
Vater unser im Himmel ...

 
Christian Wolff, Pfarrer i.R., info@wolff-christian.de, www.wolff-christian.de